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Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 7

An Feinden fehlte es ihm nie

Hier kommt ein längeres Kapitel mit 6700 Wörtern. Die Anmerkungen sind 1000 Wörter lang.

Hier kommt leider eine Stelle, die zu den Vorgängerbänden in direktem Widerspruch steht. Bitte berücksichtigt allerdings, dass ich an Band 4 schon seit 4 Jahren herumbastle, zwischen der Beendigung von Band 3 und Band 4 ein Jahr lang eine enorme Depression hatte, während der ich diese Bücher absolut hasste, und die Vorgängerbände erst 2024 nach vier Jahren wieder durchgelesen habe. In dieser Zeit sind mir manche Dinge entfallen.

Der Widerspruch ist gravierend und zugleich leicht zu akzeptieren, denn er betrifft nur 4 Sätzchen in Band 3. Am Ende von Band 3 eröffnete der alte Herzog Gunther, dass Hagen ein „Bastard“ von Gibich ist. Er sagt in 2 knappen Sätzen, dass es auch Gunthers Mutter wisse. Wenn Gunther später Hagen von seiner wahren Herkunft berichtet, fragt der ihn, wer es noch wisse. Da heißt es „Nur meine Mutter“. Mehr nicht.

Aber ich hatte in der Zwischenzeit vergessen, dass die Hauptfiguren wussten, dass Ute in Kenntnis gesetzt war. In meiner Vorstellung dachten sie, bis auf den alten Herzog habe niemand davon erfahren.

Jetzt folgt eine Szene, in der Ute Gunther mitteilt, dass sie sehr wohl von Gibichs illegitimem Sohn weiß, und er reagiert entsprechend geschockt.

Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich euch bitte, die 4 Sätze aus Band 3 auch zu vergessen. Später werde ich sie anpassen; am sehr kleinen Umfang der notwendigen Änderung zeigt sich, dass die Sache ziemlich nebensächlich ist. Dann heißt es einfach: Wer weiß sonst noch davon? – Niemand.

Doch auch davon abgesehen bin ich mit dem ersten Abschnitt keineswegs zufrieden. Vielleicht wird die Szene noch komplett umgeschrieben oder herausgeworfen. Wenn ihr sie deshalb nicht lesen wollt, könnt ihr runterscrollen bis zum nächsten Abschnitt, der dann wieder wichtig ist für die weitere Handlung.

Jetzt geht es los:

Gunther konnte nicht leugnen, dass die Abwesenheit seines besten Beraters den Wormser Hof in Unruhe versetzte: Es gemahnte ihn an die Tierwelt, wenn sich der Adler von dannen gehoben hatte, und nun aus allen Ecken, Spalten und Winkeln die Mäuse hervortrippelten. Jeden Tag umgaben ihn Grafen und Ritter, die sonst nicht das Wort zu ergreifen wagten. Manche baten ihn, ehrfürchtig oder drängend, um neue Lehen, Privilegien und sonstige Gunsterweise; manch andere beschränkten sich darauf, gegen seinen teuren Herzog zu sticheln. Sie versuchten, ihm geschickt dessen Fehler und Unzulänglichkeiten aufzuzeigen, wisperten hechelnd von seinem Hochmut und seiner Hybris, ja, und die kühnsten erfrechten sich gar, das steinerne Fundament seiner Treue anzuzweifeln, zu behaupten, alle Hingabe sei auf Sand gebaut, nicht auf den Fels der Verehrung und Freundesliebe. Ihre Ränke – das musste sie vergrämen – trugen keine Früchte; vielmehr erwürgten die Neider damit das Ansehen, das Gunther für sie vordem im Herzen getragen hatte.

Mehr als einmal ergriff ihn der Zorn! Dann beendete er das Intrigenspiel mit herrischen Worten: „Zum Undank wollt Ihr mich anstiften, wie? Denjenigen, der für mich im Feindesland die Schwerthiebe abfing, und die Leibesstrafe für den verspäteten Tribut, dem soll ich’s mit Verachtung entgelten? Und, und meint Ihr, ich sei zu töricht, um echte Treue von falschem Gesäusel zu unterscheiden? Nein, nein, ich bin kein Narr. Nur wenige Dinge sind auf dieser Welt gewiss – die Treue meines Tronjers ist eines davon. So ist’s, und habt Ihr nichts anderes zu tun, als mir einreden zu wollen, dass Gold nur Lehm sei, dann schweigt!“

Danach wagte der Gerügte es nicht mehr, Gunthers ersten Lehnsmann zu schmähen.

Die Beratungen im Thronsaal waren von schonender Kürze: Alles, was kaum über den Rang einer Kleinigkeit hinausragte, konnte Gunther bewältigen mit der erlösenden Losung: „Warten wir mit dem Urteil, bis der Herzog zurückgekehrt ist.“

Einmal hinterbrachte ihm Kriemhild, dass Gernot, der unsägliche, sich erdreistet hatte zu behaupten: „Ein Glück, dass unser Küchenmeister die Speisen des Tages festlegt. Obläge dies unserem lieben König, hätten wir bis zur Rückkehr des Herzogs nichts zu essen!“

Elender Schwätzer! Gunther sorgte für seine Strafe. In der nächsten Ratssitzung stellte er Gernot genau vor jene Prüfung, die Männer der Tat von den Männern des Besserwissens schied: Er fragte vor allen Leuten seinen Bruder um Rat. Es erfüllte Gunther mit Triumph, wie Gernot darum rang, die Überlegenheit zu bewahren und sich gleichzeitig einer echten Antwort zu entwinden.

Ab und an stahl sich Gunther – hoffentlich unbemerkt von den lästerfrohen Höflingen – in die Kemenate, um Mutter zu besuchen. Die Begegnungen der letzten Monate waren stets flüchtig gewesen – und eigentlich hatte er sie ja doch ein wenig vermisst.

Des Öfteren mischte sich auch die Schwäbin in ihre Gespräche und gab unermüdlich mit den Fortschritten ihres Sohnes an – auch wenn sie bedauerte, ihn nur noch selten zu Gesicht zu bekommen.

Eines Tages führte ihn Mutter in ihre Kammer hinüber. Hier hatte er sich früher oft hinter der Kleidertruhe versteckt, wenn Vaters Zorn wieder allzu heiß loderte. Und hatte er sich der Strafe nicht entziehen können, kam er oft hierher für Trost und Salben.

„Ach, Mutter“, sagte er mit gedankenverlorenem Seufzen, „jetzt hab ich fünf Dutzend Wächter in meinem ständigen Dienst, doch keiner von ihnen hat mich so oft vor Unbill bewahrt wie Ihr.“

„Glaub mir, würden wir Frauen dieselbe Macht genießen wie Männer, hätte dich nur sieben Mal die Strafe ereilt, immer dann, wenn du zu deinen Geschwistern garstig warst.“

Naja, er hatte das anders in Erinnerung … Er füllte zwei Becher mit Wein.

„Es gibt da etwas, dass du erfahren musst, Goldstück“, sagte Mutter leise. Sie sah ihn an mit eindringlichem Blick. „Dein Vater wäre zufrieden, dass die beiden wichtigsten Ämter des Reiches seinem Stamm gehören.“

Er erstarrte. Sie wusste – nein, das konnte nicht sein, oder nicht? Seinem Stamm – vielleicht war’s nur ungeschickt ausgedrückt, jaja, und Mutter wusste gar nicht, wie Recht sie wirklich hatte.

„Ja“, sagte er hastig, „das würde ihn mit Stolz –“

Mutter griff nach seiner Hand. „Ich weiß nicht, wie viele Halbgeschwister du noch hast – aber ich weiß, welcher der bedeutendste ist.“

Er schlug die Linke vors Gesicht. Mutter, die fromme, gottesfürchtige Königswitwe, könnte es nicht dulden, dass das wichtigste weltliche Fürstentum sich in den fähigen Händen eines – Bastards befand! Sie würde ihn anflehen, diesen Zustand, der die Ordnung der Welt und die Ehre ihres toten Bruders verletzte, alle angestammten Gesetze aus dem Lot brachte – diesen Zustand aufzuheben, seine Schuld zu tilgen, und seine beste und treueste Stütze hinabzuschleudern in den Staub. Uneheliche Geburt war dreifache Schmach: des Vaters, mehr noch der Mutter, und am meisten des unschuldigen Sohns. Keine Waffe könnte seinen Hagen besiegen, kein Feind ihn überlisten, keine Gefahr ihn brechen – aber ein Wort nur, ein einziges, und nicht einmal Gunthers gesammelte gekrönte Macht könnte ihn vor dem Sturz bewahren.

„Bitte“, flüsterte er elend, „lasst ihn mir!“

Mutter drückte seine Finger. „Hätt‘ ich’s verraten wollen, hätt‘ ich nicht fünfzehn Jahre lang geschwiegen.“

Er ließ die Hand von den Augen wieder sinken. „Oh. So lang schon wisst Ihr es?“

„Natürlich. Die Herzogin war meine beste Freundin, und der unglückliche Ehemann mein Bruder. Bevor sie’s mir gestand, hatte ich es bereits durchschaut.“ Sie lächelte, und es schien derart heiter und verschwörerisch, dass Gunther beinahe Hoffnung schöpfte.

„Mutter – seid Ihr mir böse, dass ich ihm das Lehen gab?“

Sie wich seiner Frage aus. „Seit wann weißt du es?“

„An dem Tag, an dem Dankwart von der Nachfolge ausgeschlossen wurde, hat der Herzog es mir erzählt.“ Er schluckte. „Ich hab mit mir gerungen, wie ich den Herrgott versöhnen könnte“, verlegen sah er zur Decke, „weil ich ja nicht ohne einen Berater und Beschützer herrschen kann, und – Hagen ist doch in jeder Hinsicht dafür geschaffen. Es kam mir vor, als wolle mich das Schicksal verspotten, wenn es mir den bestmöglichen Ausweg für meine Not zeigt, nur um ihn mir dann zu verbieten!“

Mutter nickte. „Du warst dir bewusst, dass du einen illegitimen Sohn mit einem Amt betraust.“

„Zum Teufel! Ich –“

„Fluch nicht.“

„Zweimal zum Teufel! Es waren andere, die sich viel schlimmer versündigt haben! Und falls Ihr Euch wundert: Nein, ich bereue es nicht – es war die beste Entscheidung!“ Er entzog ihr seine Hand.

Mutter blickte zum Kreuz an der Wand hinüber. „Es scheint, als habe der Herrgott seinen Segen dazu gegeben. Freilich müssen wir auch weiterhin viel beten, dass er uns vergebe, was du getan hast. – Ich zumindest bringe ihm morgens und abends zehn Paternoster dar, damit er uns nicht zürne.“

„Oh, Mutter!“, sagte er freudig, „ich danke Euch! So sehr!“ Er erhob sich und umarmte sie. „Dass Ihr es mir nachseht – und dass Ihr das Geheimnis bewahrt.“

„Ich könnte doch niemals meinem Sohn den wertvollsten Beschützer nehmen! Niemals. Aber lehr ihn beizeiten ein wenig das Gehorchen. – Ich nehme an, Hagen weiß es auch?“

Er nahm wieder Platz in seinem Stuhl. „Ja. Ich ließ ihm freilich keine Zeit, um darüber nachzugrübeln, sondern verdeutlichte ihm, dass er unverzichtbar ist. Wenn der König bittet, kann der Diener nicht fernbleiben.“

„Niemand sonst weiß es?“

„Nein.“

„So soll es bleiben. Hüte dieses Geheimnis noch sorgsamer als Gold.“

Er neigte sich leicht. „Seid ohne Sorge. Zu furchtbar wäre der Preis, den wir entrichten müssten. Ich könnte Hagen als Herzog nicht mehr halten.“

„Nicht einmal als Wächter dürfte er dir noch dienen. Die Fürsten erlaubten es nie, dass der ehemals zweite unter ihnen in der Nähe des Königs weilte, zumal der ihm noch immer die Treue hielte! Sie gäben erst den Zorn auf, wenn jeglicher Einfluss von ihm vernichtet wär. Ihr liebstes Mittel hieße wohl ‚Verbannung‘.“

Das wollte er alles nicht hören! Gereizt erwiderte er: „Weder ich noch Hagen werden je etwas sagen.“

Mutters Blick war eisern und flehend zugleich. „Dieses Geheimnis könnte auch dich den Thron kosten. Dem König, der einen Bastard beschirmt, erwachsen tausend Feinde. Man würde deine Absetzung verlangen, dich für herrschaftsunfähig erklären.“

„Wir geben acht!“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich will nur, dass du die Gefahr begreifst, mit der du immer leben musst. Der arme Kerl kann nichts dafür, dass seine Tugend dein Panzer und seine Herkunft deine Blöße ist. Sag niemandem ein Wort davon.“

Neuer Abschnitt ab hier:

Am selben Tag schickte Gunther nach Kriemhild, sie solle in den Thronsaal kommen. Sie ließ sich unnötig viel Zeit dafür, die Freche, und als sie ankam, war Gunther bereits ins Gefecht mit einem Wächter vertieft. Nach dem Ende des Kampfes hob er das Schwert vom Boden auf, nahm den Helm ab und schritt zu Kriemhild hinüber.

„Grüß dich, kleine Schwester! Du wolltest doch immer die Schwertkämpfe einmal von Nahem anschauen – jetzt ist es soweit!“

Eine Falte entstand zwischen ihren Brauen. Mit dürftig verhohlenem Ärger murmelte sie: „Ich wollte aber richtige Gefechte sehen, von Kriegern, die ein paar mehr Schlachten als du überstanden haben!“

„Mit solchen kann ich zurzeit nicht dienen. Da musst du Unglückliche eben mit mir vorliebnehmen.“ Er lachte und wandte sich um.

Richard von Lichtenburg, sein wackerer Wächter, erwartete schon den nächsten Kampf. Er hatte genug Anstand, seinen König diesmal siegen zu lassen. Beim zweiten Mal ebenso, beim dritten sicherte Richard sich den Sieg schnell wie die Natter, die aus dem Dickicht schoss, und beim vierten Mal gewann Gunther ganz von selber. „Hast du das gesehen?“, rief er ausgelassen zu Kriemhild hinüber.

„Selbstverständlich. In der Schlacht hättest du längst eine Klinge im Herzen.“

Er winkte unwirsch ab und fasste den Schild fester.

„Weiber“, brummte Richard. „Verstehen nicht einmal den Zweck des Übens.“

Gunther nickte entschlossen und griff an. Richard versetzte seinen Streich gewandt und stieß die Klinge vor. Gunther sprang rasch genug zur Seite. Er zielte auf die entstandenen Blöße in Richards Seite. – Wieder ein Sieg! Flink nahm er eine Verteidigungsstellung ein, wartete auf Richards Angriff. Aus der Hut wehrte er zwei ab. Beim dritten – sie waren hart am Band – hakte er rasch das Heft über die gegnerische Hand und hebelte ihm die Klinge aus. Die zahlreichen Zweikämpfe mit Hagen hatten sich gelohnt.

Beim Gefecht danach hätten sie beide eine böse Wunde empfangen, und beim folgenden musste Gunther ein paar Knaufstöße einstecken, ehe ein glücklicher Augenblick ihm einen gegnerischen Fehler und drum den Sieg bescherte.

Er rief Kriemhild, sie solle den Wein herüberbringen. Rasch neigte er sich zum Wächter: „Du schonst mich wirklich nicht?“

„Gar nicht, Herr.“

Verlegen nahm Gunther den Helm ab. So recht wollte er das nicht glauben; schließlich waren ihm die Zweifel vertrauter als das Zutrauen zu sich selber.

Kriemhild reichte jedem einen Becher. Während sie tranken, untersuchte sie Gunthers Helm und Schild, hob beide hoch und prüfte das Gewicht.

Wächter Richard hatte selten so lange und so nahe bei ihr gestanden; Gunther rechnete es ihm hoch an, dass er sich redlich mühte, nicht zu starren. Außerdem hatte Richard von Lichtenberg ihm einen großen Dienst erwiesen, damals, als der alte Herzog zu Tode kam. Auf Gunthers Befehl hin hatte der Wächter die Schuld übernommen – eine federleichte Schuld, denn es war Notwehr zur Rettung des Landesherrn. Er hatte Stillschweigen geschworen, sich verpflichtet, niemandem je zu verraten, wer dem verrückten Herzog in Wirklichkeit den Todesstoß versetzt hatte. Doch mit Gunsterweisen hielten die Schwüre noch besser. Zwar hielt ihn Gunther oft in seiner Nähe, fütterte ihm Brosamen seiner Huld, aber eine weitere Belohnung wäre kein Nachteil. Er könnte dem Lichtenberg eine ansehnliche Braut aus angesehener Familie vermitteln, aus einem Rittergeschlecht oder dem reichen Bürgertum.

Als die Becher geleert waren, stellten sie sich erneut zum Kampf. Es folgte eine Kette geschwinder Gefechte, mancher Prachtsieg nach nur ein, zwei Hieben war dabei. Nie dauerte es länger als fünfzehn Herzschläge; außer die drei Mal, bei denen sie beide zu Fall kamen und den Kampf mit zähem Ringen beschlossen.

Nach einem besonders hart errungenen Sieg klatschte Kriemhild in die Hände. „Oh, das war wunderbar! Ich will noch öfter zusehen! Und wüsst‘ ich’s nicht besser, würde ich beinahe meinen, du habest“, sie dachte kurz nach, „in sieben Schlachten gefochten!“

Das Lob eines Laien, obzwar ohne Substanz, nahm man doch trotzdem gerne an. Gerade als er den nächsten Kampf begann, schwang die schwere Saaltür auf.

Der Herold eilte herein mit großen Schritten. „Mein König, drei Boten trafen eben ein, aus Frankreich, Bayern, Österreich. Sie lassen ausrichten, was sie Euch mitzuteilen haben, dulde keinen Aufschub.“

Aller schwirrende Frohsinn verschwand, stattdessen stieg wie Nebel jetzt die Sorge auf. Gunther legte den Schild nieder und nahm den Helm ab. „Das hört man immer. Nein, die Boten werden sich gewiss erst von der Reise erholen wollen. Gebt ihnen Wein; derweil sollen sich meine Fürsten hier versammeln.“ Ermanne dich! Es stand einem König nicht gut an, schon beim zweiten Satz eines Befehls außer Atem zu kommen!

Plötzlich entstand Aufruhr draußen vor dem Portal.

„Es ist verboten!“, riefen seine Wächter. Richard rannte los wie ein Pfeil, hinüber zum Portal mit gezogener Waffe. Einen Herzschlag lang zauderte Gunther – dann folgte er rasch. Draußen auf der Saalstiege standen die drei Boten und verlangten Einlass. Seine Wächter – drei weitere waren bereits herbeigeeilt, es waren nun sechs – versperrten ihnen den Zugang mit drohenden Speeren.

„Was ist hier los?“, fragte Gunther hinter ihnen. Nein, zu leise! „Was soll der Aufruhr?“

Die Wächter bildeten eine treue Wand zu seinem Schutz. Einer der Boten deutete anklagend auf ihn und rief mit französischem Zungenschlag: „Edelmann, bring uns einen, der bedeutend und vernünftig ist! Wir wollen zum König!“

„Jawoll!“, riefen der Bayer und der aus Österreich.

„Der König bin ich.“ Ihm entging nicht, wie sie ihn jetzt beäugten, denn dass er gerüstet war im Kettenhemd, passte nicht zu dem Bild, das sie sich von Gunther, dem Weichling, vorgestellt hatten.

Ihr herablassendes Staunen verlieh ihm Kraft. „Dann lasst sie eben eintreten, Männer“, sprach er fest. „Wenn ihnen die Botschaft derart auf der Zunge brennt, hör ich sie sogleich an.“

Er schritt den Boten voran in den Thronsaal zurück. – Kriemhild stand am Rand, demütig und bescheiden wie ein zartes Singvögelchen. Er hätte sie vorher fortschicken sollen. Nun denn, sollte sie eben bleiben.

In einem Streifen aus Mittagslicht hielt er an. Die Kettenringe blitzten, als er sich umdrehte. Der Thron, noch weit entfernt, lag im Schatten. Er stützte eine Hand in die Hüfte und sagte, weniger barsch, als er es beabsichtigt hatte: „Willkommen in Worms. Stürmisch war Eure Ankunft; ich hoffe, dass Eure Botschaft –“

„Lange Reden tun nicht not, junger König“, sprach der Bayer. „Die Schonfrist ist vorbei!“

„Aus Rücksicht auf Eure Jugend haben unsere Herren bisher gütig ausgeharrt“, fuhr der Österreicher fort, „nun aber ist’s genug! Euer Vater und sein Herzog haben allzu oft ihre Nachbarn betrogen, mit List und Tücke sich Ländereien errafft, vor zehn Jahren Österreichs Kriegskasse gestohlen, und mit zahllosen Schandtaten mehr den Namen Burgund besudelt.“

„Aber das ist so lange her!“, rief Gunther.

Der Bayer fuhr fort: „Und ebenso lange zehrt Burgund von den Zinsen seiner unrecht erlangten Vorteile! Sollen unsere Herren da duldsam aufgeben, was einstmals ihnen selber gehörte? Dem verzärtelten König von Burgund alles schenken, wo doch jeder Bauer für sein Erbe Abgabe leistet?“

„Nein!“, riefen die andern beiden, „niemals!“

„Ihr genießt nicht ungestört das ererbte Diebesgut, oh nein!“

„Darum“, rief der Bayer stolz, „kündigen wir Euch die Erbabgabe an! Wir holen zurück, was uns gehört. Unsere Herren – erklären Euch den Krieg!“

„So ist’s!“, wiederholten der Bayer und der Franzose mit hämischem Genuss.

Oh Himmel, warum war Hagen gerade jetzt nicht da!

„Wie bitte?“, fragte Gunther verschüchtert, mit einer Stimme, die in seiner Kehle verkümmerte, „ist das wirklich Eure Botschaft?“

Drei Feinde, drei! Selbst wenn Schwaben helfen wollte, wären sie zu schwach. Sein armes Land, zermalmt zwischen Frankreich, Bayern, Österreich! Was sollte er tun? Kampflos aufgeben, was sie verlangten? Der einzige Ausweg wäre das, und führte in die Schande. In den Schlachten verlöre er sein treues Heer, aber wenn er jetzt gleich um Frieden flehte, verlöre er die Ehre! Verblutende Männer – oder sein guter Name in Fetzen! Warum zum Teufel hatte er Hagen auf diesen törichten Umritt geschickt! Und warum ließ man ihn nicht in Ruhe; er hatte keinem etwas Böses getan!

Die Boten nickten triumphierend.

Er hob die Hand zur Stirn, wollte sich bekreuzigen – halt! Das würden sie ihm als Schwäche auslegen. Stattdessen fuhr er sich durchs Haar. Die drei Wölfe vor ihm begannen zu wabern, und in seiner Kehle brodelte es. Nicht das noch! Sie betrachteten ihn schadenfroh, erwartungsvoll lächelnd, als würde es ihnen schmecken wie himmlisches Manna, wenn sich ein König vor ihren triumphierenden Augen in Nervenfasern auflöste.

„Oh, furchtbare Not!“, schrie eine helle Stimme – Kriemhild. Sie rannte von der Seite herüber, hielt abrupt inne vor den drei Boten, hergeweht wie eine Rosenblüte in ihrem zartroten Kleid. „Was tut Ihr uns an! So viele Feinde hatten wir noch nie, und wenn sich nun die halbe Welt gegen uns verschwört, dann müssen alle meine Brüder in den Krieg ziehen, alle! Sogar Giselher, und der ist doch viel zu jung!“ Sie blickte mit glänzenden Augen über die Boten hinweg und bemühte sich, nicht loszuschluchzen. „Ich hab meine Brüder lieb! Meine Vettern, meinen Onkel – und Ihr wollt sie umbringen!“ Zwei Tränen rannen ihr über die Wangen. Gunther hätte sie getröstet – nein, Trost gab es nicht – sie umarmt, wenn er selber mehr gefasst wäre.

Die Boten waren immerhin ganz von ihm abgelenkt. Er wischte sich rasch übers Gesicht und versuchte, ein paar Bröckchen der königlichen Würde wiederzufinden.

Kriemhild brach jetzt doch in haltloses Schluchzen aus. Da wollten die Boten, trotz ihrer Kälte gegenüber Burgunds Schicksal, nicht schweigen im Angesicht einer weinenden Frau.

„Verzagt nicht, schönes Kind“, sagte der Österreicher und ergriff ihre Hand, um sie zu küssen, „es werden bestimmt einige Eurer Verwandten vom Schlachtfeld zurückkehren!“

Kriemhild schüttelte den Kopf. Ihre Tränen fielen auf die Finger des Österreichers.

„Liebes Mädchen“, sagte der Franzose sacht, „wenn es Euch nun auch im Herzen schmerzt wie ein Dolch – es sind ja nur Brüder, die Ihr beklagen müsst, und kein Gemahl!“

Kriemhild schaute zu ihm auf. Ihre Augen waren groß, ihre Lippen zitterten. „Meine Brüder sind mir sehr teuer. Der dritte ist froh und lauter wie die Morgensonne, der zweite ist kühn und stark, und der erste hat Weisheit und Geist, so weit, wie Sand am Ufer des Meeres liegt.“

„Nehmt mein Ehrenwort als Ritter“, sprach der Bayer, „dass mein Herr, der Herzog Heinrich, nicht aus Feindschaft zum Schwert greift, sondern nur zur Wiedergutmachung fremden Unrechts. Eure Brüder selber bewahrt er in großer Hochachtung.“

„Aber das schreckliche Elend, der grausige Krieg!“ Sie schüttelte den Kopf und wimmerte herzzerreißend.

Gunther straffte den Rücken. Die Verzweiflung hatte er noch einmal überwältigt, die Tränenschleier waren getrocknet. Er war jetzt Manns genug, den Boten Antwort zu geben. Er räusperte sich, um die Verlässlichkeit seiner Stimme zu prüfen – es ging – und trat zu ihnen.

Kriemhild flüsterte gerade: „Wenn sie ins Feld zogen, sagte ich immer ‚Lebewohl‘ – doch diesmal ist es aussichtslos, keiner kommt zurück – ich kann ihnen nur wünschen: ‚Stirb rasch‘!“

Gunther legte den Arm um sie. Er starrte die Boten an. „Nicht ganz, Schwester – du musst uns wünschen: ‚Auf dass euer Tod teuer sei!‘“ Seine Verneigung war nur ein Nicken. „Es kann der Anständigste nicht in Frieden leben, wenn seine Nachbarn Blut begehren. Der Anständige dankt dem Boten für die Mühsal, ganz gleich, welche Nachricht er überbringt. Nun gehet hin und wartet auf meinen Bescheid.“

Ihre Schadenfreude war verglommen; sie verbeugten sich und murmelten einen Abschiedsgruß.

Als sie fort waren, zog Kriemhild sanft an seinem eisernen Ärmel. „Du hast dich wieder gefangen, nicht wahr?“ Sie lächelte ihn an, überraschend gefestigt. Er zog sie an sich und umarmte sie. Das war mit Kettenhemd zwar nicht besonders angenehm für seine Schwester, aber er drückte auch nicht zu.

Er raunte: „Ja. Du muss tapfer sein; ich, ich tu, was ich vermag, und bald kommt Hagen zu-“

Sie schniefte und entwand sich seinem Griff. „Ich hab’s doch für dich gemacht, das Weinen und das Jammern. Ich hätte ihnen nämlich am liebsten mit der Faust gedroht, den Elenden!“

„Oh“, sagte er. „Dann – danke.“ Er räusperte sich erneut. Drei Feinde, drei! „Lass alle Fürsten rufen, sofort. Ich komme gleich wieder.“

Er rannte davon, aus dem Saal hinaus, die Treppen hoch. Was kümmerte es ihn, dass die Leute ihm erschrocken nachschauten oder riefen: „Was ist geschehn, Herr?“ Sie erführen es bald genug.

In seiner Kammer hängte er das Wachs über die Kerze und stürzte sich dann auf Pergament und Feder.

Dem schnellsten seiner Boten übergab er das Schreiben – halt, kehr um! Gunther sprach noch ein hastiges Paternoster für beide, Brief und Reiter, und schickte sie endgültig fort.

Als er in den Thronsaal zurückkehrte, waren die Fürsten versammelt. Der Lärm und die Aufregung verrieten ihm, dass Kriemhild ihnen den Grund gleich hatte ausrichten lassen. So blieb es Gunther erspart, Zeuge ihres ersten Schreckens, der Empörung und des Zorns zu werden.

Onkel Godomar kam auf ihn zu und fasste seine Hände. „Sei stark, Neffe. Einer solchen Lage sah sich keiner deiner Vorgänger je ausgesetzt, was jedoch niemanden davon abhält, dir treu beizustehen.“ Sah man es Gunther denn so deutlich an, dass er führungslos war? „Der erste Schritt ist der einfachste: Ruf das Heer herbei, gleich jetzt. Dafür brauchst du nicht den Herzog zu fragen, der sagte nämlich dasselbe wie jeder. Danach kannst du ein paar Tage warten mit den Entscheidungen. Über das weitere Vorgehen beraten wir, wenn er wieder da ist, schließlich ist er dein Fürst mit der stärksten Streitmacht und muss gehört werden.“

Gunther hauchte ein schwaches Ja. Er schritt zum Thron, unbemerkt in der allgemeinen Entrüstung. Er setzte sich. Die Lehnen hielt er fest umklammert, bis die Adern hervortraten. Der leere Platz zu seiner Linken erinnerte ihn drohend: „Alleine bist du unfähig!“ Es wäre wohl niemandem aufgefallen, dass der König anwesend war, wenn nicht der getreue Eckewart für ihn um Ruhe gerufen hätte. Wie eine Herbstböe fuhr das Schweigen durch den Saal.

Stärke! In Zeiten der Gefahr blickte jeder zum König auf – drum sollte sein Anblick sie nicht mit noch mehr Bangigkeit erfüllen!

Er hielt sich aufrecht, als er das Wort an seine Leute richtete. Was er sprach, war ihm kaum bewusst, denn in seinen Ohren waberte es pochend, wie unter Wasser. Auch schien es ihm, als seien seine Züge unbeweglich wie bei einer Statue aus Marmor, keine einzige Regung zuckte drüber hinweg. Dabei zitterten ihm die Finger, der Schweiß rann über seinen Rücken, seine Männer verliefen vor seinen nichtblinzelnden Augen zu Flecken. Er wurde vielleicht zum ersten Menschen, der eine Rede ohne ein einziges Mal Luftholen hielt. Er fand, er stottere, dass es zum Schämen war, oder verschlucke ganze Silben. Von seinem reinen Gewissen redete er: Das wonnige Burgund war für alle ein guter Nachbar gewesen, hatte dieses zerbrechlichste Gefäß, den Frieden, tugendreich gehütet – da zogen die scheinbaren Freunde den Dolch und stachen auf sein liebes Land ein, unverdient, kein Krieg war je ungerechter gewesen! In Scherben ging der Frieden, doch schuldlos war Burgund. Ein Schandfleck in allen Chroniken wäre dieser Krieg, ganz gleich, wie er ausginge, und sollten auch die Franzosen, ihres verlotterten Paris’ überdrüssig, in den Ruinen von Worms ihre neue Hauptstadt gründen, würden deren Enkel einst fragen: ‚Großvater, warum habt Ihr dieses unschuldige Land zerstört?‘ Denn die Nachgeborenen würden wissen: Schuldlos war Burgund! Hastig redete er vom Kampfesmut der Schwächeren, die sich ungebrochen gegen den starken Gegner wandten, gleich der Drossel, die den finsteren Räuber, die Krähe, mit kühnem Herzen von ihrem Nest verjagte! Denn schuldlos war Burgund! Am Ende versprach er Sankt Peter, dass kein Burgunde an dessen Pforte klopfen würde, ohne seine Pflicht erfüllt und tapfer gekämpft zu haben!

Fast liefen ihm die Tränen herab. Trotzdem gelang ihm das Wunder, die Versammlung am Ende gar zu wagemutigem Jubel zu bewegen. 

Die hochgereckten Schwerter wurden schließlich wieder eingesteckt, zu den Vorbereitungen wollte jeder eilen, da rief Gunther den Bischof von Worms zum Gebet auf. Gehorsam beugte man das Knie. Gunther selbst glitt aus dem Thron, leicht wankend, und kauerte mehr als dass er kniete. Er musste noch weit inbrünstiger flehen als alle andern, denn wäre seine Unzulänglichkeit nicht weltbekannt, wär ihnen dieses Unheil vielleicht erspart geblieben.

Als der Bischof „Amen“ sprach, erhob sich mancher getröstet und zuversichtlich – manch anderer dagegen hatte Demut gelernt und das erbärmliche Leben in die Hand des Höchsten gelegt. Burgunds schwerster Krieg hatte begonnen.

Neuer Abschnitt ab hier:

Gehetzte Regsamkeit erfüllte die Pfalz bei Tag und bei Nacht. Vom Umland holte man Ochsen herbei und Säcke voll Mehl, auch Schweine und Fässer voll Wein. Wer den Tross begleiten würde als Schmied oder Metzger wetzte die Messer oder hämmerte unaufhörlich Hufeisen und Lanzenspitzen zurecht. Man holte die Rösser von den entfernten Weiden, ordnete das Testament und stiftete Messen für einen guten Ausgang des Krieges. Die Bäuerinnen lieferten Leinenstoffe ab, die Mägde schnitten sie zurecht für Verbände.

Zehntausende Gebete stiegen zum Himmel auf, wären sie Vögel, müsste er sich verdunkeln. Gattinnen und Töchter knieten stundenlang im Dom, und in den Klöstern erflehten die lauteren Weltabgewandten, Nonnen wie Brüder, die Gnade des Herrn.

Mutter zeigte sich unermüdlich, eilte zwischen Dom und Kemenate hin und her, mischte Salben und Pulver, tröstete die Frauen, nahm Gunthers Befehle für die Zeit seiner Abwesenheit an, und verlieh wie ein Leuchtturm in schwarzer Nebelnacht den Zaudernden Hoffnung und Halt.

Neben der Sorge um das Schicksal seiner Burgunden war ein weiterer Gedanke allgegenwärtig: Wie lange, bis der Bote Hagen erreicht hatte? Er konnte nicht allzu fern sein; der Weg eines feierlichen Umritts wand sich rankengleich von Burg zu Kloster, von Dorf zu Stadt, und jeder Aufenthalt dauerte gleich zwei Stunden. Was für den neuen Herzog eine Tagesreise war, legte der Bote in einem halben zurück. Er überlegte täglich mit Godomar, Eckewart und dem Bischof, wann Hagen frühestens eintreffen könnte; und jede Stunde rechnete er es neu aus. Wenn er doch endlich, endlich ankäme! Sieben Tage würde er brauchen – bestenfalls. Nicht einmal Totenwache konnte fliegen.

Gunther befand sich in einem fahlen Zwischenzustand, weder war er zornig noch furchtsam, weder müde noch kraftvoll. In jeder Nacht lag er stundenlang wach, grub sein Hirn grübelnd um und um wie einen Ackerboden, bis er schließlich aufstand. Er verließ die Schlafkammer, um Claudius nicht zu wecken, ging ins Zimmer nebenan und zog das Schwert, um gegen erdachte Feinde zu fechten und vielleicht irgendwann die ersehnte Erschöpfung zu finden. Er tänzelte ohne Pause umher, ganz sachte wegen der Leute unter ihm. Half es? Nein; als der Morgen graute und ein neuer Wartetag begann, fand ihn das frühe Licht rastlos und fahrig, beim verbissenen Kampf gegen Gegner ohne Gestalt.

Dann ließ er die Waffe sinken, spähte hoffnungsvoll zum Fenster hinaus – vielleicht waren seine Bitten erhört worden, und der ersehnte Reiter preschte auf den Hof? Doch er kam nicht.

Gunther schalt sich in Gedanken; nicht einmal Hagen konnte sich die Zeit untertan machen. Er weckte seine Diener und Knappen, ließ sich ankleiden, gab Claudius Körner und eilte in den Dom. Allen Leuten, die er auf dem Weg antraf, sprach er Mut zu, vom Fürsten bis zur Wäscherin. Was er sagte, ließ sie getröstet zurück, er wusste selber nicht, wie ihm das gelang. In seinem Kopf klang jedes Wort der Aufmunterung hohl und falsch, erzwungenes Lügengeklapper.

Bei jeder Frühmesse stellte er Berechnungen an. Im Saal erstattete man ihm Bericht über tausend Angelegenheiten. Vieles verlief zum Glück nach Plan, da brauchte er nur nicken und in schönen Worten „Weiter so“ sagen. Bei unvorhergesehenen Schwierigkeiten sprang ihm gleich Godomar bei, Eckewart, auch Gernot. Gunther war heilfroh darüber.

Danach ritt er zum Rheinufer, um zu tjosten. Grau war alles Licht, selbst das Glitzern der Wellen. Nicht heute, nicht morgen, nicht übermorgen.

Das Mittagsmahl unterbrach die Kämpfe. Er verteilte Trost und wackere Worte, und wenn er einmal nicht sprach, nippte er schlückchenweise am Wein herum. Der Nachmittag zerfasterte sich in derselben Weise, manchmal dämmerte er in der Kemenate für zwei Stunden ein, und irgendwann war Abend; endlich, endlich wurde das Ergebnis seiner Berechnungen einen Tag kürzer.

Am fünften Tag des Wartens ging er in der Abenddämmerung zum Dom hinüber. Übermorgen müsste Hagen eintreffen, ganz gewiss. Im Laufe des Nachmittags vermutlich. Er würde wissen, was zu tun war, ach, vielleicht könnte Hagen mit seiner Klugheit allein die Gefahr noch abwenden? Schließlich hatte er auch Schwaben dem burgundischen Machtbereich einverleibt ohne jeden Schwertstreich, allein mit der Wunderkraft der Rede!

Im Dom umfing ihn behutsam der Weihrauchduft und das weiche Licht der Kerzen. Zwei Dutzend Gläubige knieten noch vor dem Altar, das Haupt tief geneigt. Alle Rastlosigkeit des Tages, alles Hasten, Hetzen und Scharren im Angesicht des nahenden Krieges war bei Sankt Peters Besuchern stets zum Erliegen gekommen. Gleich Espenlaub bei Windstille hörte selbst der Eiligste zu schaffen auf; das Schwirren von tausend unerfüllten Aufgaben kam an ein Ende. Der Dom kühlte mit seinen würzigen Schatten jede erhitzte Stirn, wie die Hand des barmherzigen Samariters. Hier in der Umarmung der schweigenden Wände spürte jeder, dass er aus Staub bestand, dem vergänglichsten aller Dinge. Was hatte der Bischof heute gepredigt von der Kanzel herab? Windhauch war alles Streben; jede Mühe, noch so groß, war doch nur jämmerliches Erdengezappel. Der Tod holte jeden ein, die Trägen wie die Fleißigen, die Geschlagenen wie die Sieger. Das wahre Ziel war nicht der Triumph im Krieg, sondern das Reich im Himmel. Die Erbaulichkeit seiner Predigt verging jedoch rasch wie Rauch; natürlich fühlte jeder das Himmelreich warten – aber – der Weg durch Blut und Waffenlärm beschäftigte die Seelen mehr. Um eine gute Heimkehr flehten die Mütter und Schwestern; um viele Jahrzehnte mit dem Bräutigam flehten die jungen Bräute; die Männer beteten für Schlachtenglück, für Panzer und Helme, die hielten, für Schwerter und Knochen, die nicht brachen.

Gunther kniete sich am Rande nieder, reglos, nur seine Finger gaben das Zittern nicht auf. Fürbitten, Sorgen und Klagen stürzten übereinander, ein Glück, dass niemand in seinen Kopf sehen konnte. Einzig Mutter und Hagen hätten es ihm angemerkt. Kein Paternoster brachte er zu Ende, schon rasten ihm die Gedanken davon, zimmerten nichtsnutzige Schlachtpläne zusammen, zählten seine Krieger oder stellten Mutmaßungen über die Namen der künftigen Gefallenen an. König, ha – in der Not war er ein Taugenichts. Übermorgen, schlimmstes Warten, und falls er sich verspätet hätte, noch länger, länger! Unsäglicher Hagen, warum war er fort! Er bekam doch bisweilen Visionen – warum hatte er nicht Burgunds Unheil vorhergesehen und war hiergeblieben? Der Zorn war ungerecht, ja, ja – aber irgendeiner musste herhalten, sonst bliebe Gunther nur er selber übrig, um sich zu beschuldigen.

Nach einer Stunde voller Zagen, Flehen und Befürchten erhob er sich. Er schlug das Kreuz und verließ seinen Freund, den Dom.

Die Nacht war herabgesunken, in Schwärze lagen Pfalz und Stadt. Feuerschalen brannten vor dem Portal des Saals und vor den Türen fürs Gesinde. Aus einigen Fensterritzen drang Kerzenschein. Nur noch wenige Leute gingen über den Hof, ihre Schritte beschwert von der Mühsal des Tagewerks, für das der Tag nicht reichte. Schlaff hingen die Fahnen an den Stangen; nur ihre Säume wiegten sacht in der Brise. Die Luft war kühl für Mitte Mai. Der Flatterflug der Fledermäuse unterbrach zischend das Schweigen der Nacht. Manchmal waberten Stimmenfetzen an sein Ohr, von den Fensterläden zu Raunen herabgedämpft.

Wieder erstreckten sich Stunden vor ihm, eine ganze Ebene, und unerreichbar wie der Horizont schien ihm der Morgen. Er schlang den Umhang enger um sich und strebte der Pfalz zu.

Hufschläge hallten von den Wänden wieder; hurtig, eilig, flinker Trab – dann allmählich Schritt.

Zu dieser späten Stunde ließen die Stadtwächter nur noch hohe Herren ein. – Heute, heute schon?

Durchs Hoftor kamen Pferd und Reiter. Entweder hüllte nur die Nacht das Pferd in Schwärze, oder es war ein richtiger Rappe. Ein Stallbursche huschte heran, ergriff den Zügel. Der Reiter stieg ab, klopfte dem Pferd den Hals und ging ein paar Schritte zur Seite, schwankend wie einer, der über den Zeitpunkt der Erschöpfung weit hinausgekommen war.

Gunther rannte auf ihn zu. Der Sand knirschte bei jedem Sprung. Er schlang die Arme um Hagen und drückte ihn an sich. „Du bist da, du bist da! Eineinhalb Tage früher!“

„Sagte ich doch“, murmelte Hagen. „Araber sind ausdauernd. Jetzt muss er sich erholen.“

Gunther ließ ihn wieder los. Es hatte niemals ein Zweifel bestanden, wem der Titel des besten Reiters gebührte. Natürlich hatte es Hagen arg mitgenommen: Seine Kleider waren durchtränkt, Staub klebte im Gesicht, seine Wangen waren eingefallen. Und trotzdem war er hier!

„Komm mit, mein Treuester. Für dein Pferd wird gesorgt.“

Sie schritten los. Wie Hagen auf der Treppe zweimal strauchelte, fasste Gunther ihn am Arm.

Die Wächter öffneten ihnen das Portal. Sie machten große Augen. Ja, über diese Geschwindigkeit staunten sie zurecht!

„Berichte mir alles“, sagte Hagen, während sie durch die dunklen Flure gingen. „Obgleich ich furchtbar müde bin, war mein Kopf nie wacher.“

Als sie die herzoglichen Kammern erreichten und anklopften, schlurfte müde der alte Diener heraus. Er stutzte. Beinahe fiel ihm der Kerzenhalter herab. „Ja, ist’s möglich! Wir dachten, Ihr kämt erst übermorgen!“

„Er ist unerreichbar!“, sagte Gunther stolz.

Hagen nickte nur und schleppte sich bis zum Tisch und zum Weinkrug im Vorzimmer. Er warf Gunther einen knappen Blick zu, der bedeutete, dass er dem Anstand gemäß zwar teilen würde, jedoch lieber auf die Nachsicht der Freundschaft hoffte.

„Nimm alles.“

Er leerte gleich zwei Becher. Der Diener zündete währenddessen die Kerzen im Nebenzimmer an.

„Wir berufen heute noch den Rat ein“, sagte Hagen – der übliche Eisenklang in seiner Stimme fehlte – „nur erlaubt mir bitte, mich zuvor in vorzeigbaren Zustand zu bringen.“

Gunther nickte.

Inzwischen war die Kammer hell erleuchtet. Gunther schickte den Diener los, neuen Wein zu holen, das war nötig. Hagen ließ den dritten Becher wieder sinken und bedachte Gunther mit einem argwöhnischen Blick aus rotgeäderten Augen. „Warum siehst du so aus, wie ich mich fühle?“

„Ich hab die letzten Nächte kaum geschlafen.“

„Ein König muss schlafen können. Um sich nachts den Kopf zu zermartern, hat er seine Vasallen.“

Gunther zuckte mit den Schultern. „Drei Feinde wie diese sind dem Seelenfrieden nicht förderlich. Außerdem“, er zog rasch den Dolch und hielt die spiegelnde Klinge Hagen hin, „bist du nicht besser dran.“

Hagen lehnte sich vor. Dann zog er eine Braue hoch.

Gunther steckte den Dolch wieder ein. „Es tut mir leid, dass ich dir den Gewaltritt antat, und deinem braven Pferdchen.“

„Wache ist ein Held. Er kommt mit wenig Rast und Erholung aus.“

„Du auch. Ich lasse aus der Küche –“

Hagen winkte unwirsch ab und stolperte in die Schlafkammer hinüber, zum Tisch mit der Waschschüssel. Kaum dass er sich darüberbeugte, rieselte Sand hinein.

Während Gunther im Nebenzimmer wartete, geriet er plötzlich in trotzigen Mut, in geharnischte Streitlust; eine unbekannte Festigkeit fasste ihn und erfüllte seine Brust mit Kraft: Er wollte sich vor der Unbill des Schicksals und der Falschheit seiner Feinde nicht mehr schwankend ducken wie eine Binse im Wind, nein, er wollte sich ihnen entgegenstellen, entgegenstemmen wie der Eichbaum dem Sturm! Sie sollten ihn unterschätzt haben, sich in ihm irren: Es war kein wehrloses Häschen, das sie zerreißen wollten, sondern ein Eber!

Er sprang auf und stürmte zu Hagen hinüber. Der fuhrwerkte an der Schnürung seines neuen Gewands herum. Gunther packte seinen Arm. „Wir werden’s ihnen zeigen“, sagte er heftig, „diesmal träum ich nicht von Frieden, weil Frieden ohne Krieg meine Schande wäre. Sei du mein Schwert, führ du mein Heer, ich halt dich diesmal nie zurück! Sie sollen staunen voll Schmerz und Furcht: Hinter dem König mit dem federweichen Herzen steht ein Mann aus Erz und Feuer!“

Sein gewandelter Sinn überraschte ihn selber mehr als Hagen. Der nämlich nickte kühn und raunte: „Wer meinen König herausfordert, wählt mich zum Feind. Und wenn die Gegner wüssten, wie sehr ich auf den Kampf brenne! Zweiundzwanzig Schlachten musste mein Schwert im Dienste Etzels bestehn, es schlug fünfhundert Männer tot für den, der nie mein Herr war – ich kann es nicht erwarten, diese Zahlen zugunsten meines Königs zu berichtigen.“ Sein Blick wurde trübe, wie bei einem, dem vor Müdigkeit die einfachsten Dinge entfielen. „Was wollte ich denn noch …“

Gunther nahm den neuen Umhang, der schon auf der Truhe bereitlag, und hängte ihn Hagen schwungvoll um. „Das hier. – Jetzt wollen wir sie empfangen.“

Sie setzten sich im Nebenzimmer an den hellerleuchteten Tisch. Hagens Höllenritt zollte immer mehr seinen Tribut, und hätte sein Stuhl keine Armlehnen gehabt, wäre er wohl zur Seite gekippt. Wie jedoch der erste Fürst eintrat, zuckte Hagen in aufrechteste Haltung, als sei ihm Erschöpfung unbekannt. Der Kerl war unvergleichlich.

Binnen einer halben Stunde kamen sie alle: Ortwin und Eckewart, Onkel Godomar, Gerold von Trier, Volker von Alzey und Gernot.

„Ja sowas“, rief Ortwin, „bist du geflogen?“

„So sieht er aus“, murmelte Volker.

„Ich bin Euch zu tiefem Dank verpflichtet, lieber Herzog“, sagte Gunther nachdrücklich, „dass Ihr auf meinen Hilf- meinen Ruf hin hergekommen seid. Nun habt Ihr gebeten, Euren Feldzugsplan gleich heute noch meinen anderen Fürsten mitzuteilen. Bitte, sprecht.“

Doch ehe Hagen begonnen hatte, warf Gerold von Rechtenberg, der Trierer Markgraf, heftig ein: „Feldzugsplan? Wie wollt Ihr einen haben, wenn Ihr bis vor einer Stunde durchs Land geritten seid?“

„Eben drum. Zeit zu denken hatte ich genug.“

Da der Rechtenberger auf seinen Bedenken beharren wollte, sagte Gunther rasch: „Genau. Also, Herzog!“

Hagen leitete seinen Vorschlag mit ein, zwei geschliffenen Sätzen über den Ernst der Lage ein. Der Eisenklang war wieder zurück, und eine Mischung aus Dringlichkeit und Selbstvertrauen ging von ihm aus. Wohl keiner konnte sich dem Einfluss seiner Stärke entziehen; beim Zuhören richtete sich jeder unwillkürlich höher auf, die Mienen wurden entschlossen und manche Hand umfasste pflichtbewusst das Heft.

„Wir müssen zuerst unsere Streitmacht nach Westen werfen, Frankreich schlagen in schnellem Kampf. Dann, mit Frankreichs Niederlage an unseren Fahnen, wenden wir uns nach Osten. Bayern und Österreich werden uns nur vereint anzugreifen wagen, denn ein bayerischer Alleingang brächte keinen sicheren Sieg – und hielte sich Bayern zurück, genösse Österreich in dessen Glücksfall alle Früchte des Sieges alleine. Zudem ist der Franzosenkönig im Norden wieder in Streitereien mit den Engländern verwickelt, und kann nur eine Teilstreitmacht gegen uns aufbieten. Ergo: Frankreich wird früher kampffähig sein, während Bayern auf den Verbündeten warten muss. Also müssen wir uns erst den Franzosen entgegenstellen. – Mein König, wie dünkt Euch das?“

„Haltet ein!“, rief Godomar und lehnte sich vor, „was ist mit den Schwaben?“

„Sie mögen sich uns anschließen, wenn wir gegen Bayern und Österreich ziehen. Die Aussicht auf Beute wird sie überzeugen.“

„Ich bin dagegen“, sagte Rechtenberg. „Wenn wir nach Frankreich eilen, entblößen wir unsere östliche Grenze. An der übrigens, wie ich erwähnen möchte, das Herzogtum Tronje liegt, und um dessen Wohl sich zu sorgen eigentlich Aufgabe seines neuen Fürsten wäre.“

„Darum muss die Entscheidung im Westen schnell fallen“, sagte Hagen scharf. „Nur eines dürfen wir nicht: säumen!“

Rechtenberg gab nicht nach. „Bei aller Ehrfurcht vor Eurer neuen Würde, Hagen, und vor den Gebräuchen seit altersher: Ist es nicht vernünftiger, wenn wir die Leitung in diesem Krieg einem Mann anvertrauen, der schon mehrere Kriege im Dienste Burgunds ausgefochten hat? Denn Euer Eifer steht Euch gut an, natürlich – allerdings übertrifft in einem Fall wie diesem die Erfahrung alles Feuer der Jugend.“

„Ich schließe mich dieser Meinung an“, sagte Godomar mit einem verlegenen Seitenblick auf Gunther.

„Ich bedaure es mehr als jeder andere, dass ich zweiundzwanzig Schlachten nicht im Dienste Burgund ausgefochten habe“, fauchte Hagen, „aber ich habe auch schon bei den Hunnen ein Heer geführt und gewonnen!“

Gunther bedeutete ihm mit verstohlener Geste, dass er schweigen solle. Dieses Argument schlug nicht zu Hagens Gunsten aus.

„Eine Schlacht ist kein Krieg“, sagte hämisch der Rechtenberger. „Mein Vorschlag, edler König, ist es, dem Markgrafen von Speyer die Führung anzuvertrauen. Da weiß man, dass er den Rat der anderen billigt, wie es sich gehört.“

„Zuerst einmal vielen Dank“, begann zögerlich Eckewart.

Gunther unterbrach ihn: „Zuerst einmal möcht ich sagen, dass ich Euch beide, Gerold und Eckewart, hoch schätze für die Treue, die Ihr meinem Reich stets erwiesen habt – doch dies ist nicht die Zeit, um einen Disput über Grundsatzfragen zu beginnen. Immer schon führte der ranghöchste Fürst das Heer an – im Verein mit den anderen, nota bene – und so bleibt es.“

Warum zog Gernot in der Ecke die Brauen hoch, als sei er überrascht, dass Gunther einmal Schneid hatte? – Wie dem auch sei. Gunther schaute in die Runde und hoffte, dass ihm jemand beispringe.

Volker räusperte sich und sagte beschwingt: „Ich schließe mich dem Rat des Herzogs an und hätte auch ohne ihn dahingehend“ – sein Blick ging über ihre Köpfe hinweg, als suchte er nach einem Wort.

„Votiert?“, schlug Hagen vor.

„Gewiss.“

„Ich auch“, sagte Ortwin. „Ich kann’s nicht erwarten, die Unheilstifter meine Streitaxt kosten zu lassen.“

Gernot schaffte es, zu nicken und gleichzeitig so auszusehen, als habe er keine Wahl. „Ja.“

Eckewart von Speyer stimmte ebenfalls Hagen zu.

„Dann sind wir uns mehrheitlich einig“, sprach Gunther, „ich nämlich auch, ich hab Vertrauen zu meinem Herzog – und somit ist entschieden: Wir ziehen nach Frankreich!“

Anmerkungen:

„Die Lehnen hielt er fest umklammert, bis die Adern hervortraten“: Sorry für das Klischee

Tagewerks, für das der Tag nicht reichte: Ich mache mir Sorgen, ob man mir vorwerfen würde, ich hätte einen nicht funktionierenden Hof geschaffen. Warum bewältigen die ihre Arbeit nicht? Sind die Figuren (das Gesinde eingeschlossen) als unfähig konzipiert? Also: Zum einen dachte ich mir, dass ein nahender Kriegszug immer Mehrarbeit mit sich bringt. Zum anderen fühlt man sich in höherem Alter (das kann schon ab 25 sein) auch heute noch so, als ob der Tag nie ausreicht, alles zu tun, was man will (zumindest bei uns Schwaben!).

„Hufschläge hallten von den Wänden wieder; hurtig, eilig, flinker Trab – dann allmählich Schritt“: Da habe ich mich extra bemüht, durch den Rhythmus und die Länge der Silben die Gangarten des Pferds nachzuahmen!

Der Herzog klopft an seiner eigenen Türe an: Das scheint aufs Erste total sonderbar. Doch man muss bedenken: Der Herzog war bis eben noch auf Reisen, sein Diener war also allein. In einem meiner 300 Bücher über das Mittelalter hatte ich einst gelesen, dass mittelalterliche Türen jedes Mal, wenn man sie zumachte, abgeschlossen waren und mit dem Schlüssel wieder geöffnet werden mussten. Leider weiß ich nicht mehr, in welchem Buch das stand, und kann es nicht mehr nachschauen. Sollte dies stimmen, wäre es sinnvoll, dass der Herzog anklopfen muss. Alternativ kann sich der Diener auch eingeschlossen haben, damit nicht jeder Unbefugte hereinspazieren kann.

„Ein König muss schlafen können“: Das sagte Bismarck zu Friedrich Wilhelm IV. während der Revolution von 1848/49!

Die Feinde sollen erkennen, dass es kein Häschen ist, das sie angreifen, sondern ein Eber: Gemeint ist ein Keiler. Bei Wagner z. B. wird auch immer das Wort „Eber“ verwendet, und so ist es mir ins Gedächtnis eingegangen. Die Gleichsetzung von Gunther mit einem Keiler ist den Leserinnen des Epos natürlich bekannt, wo Kriemhild in der Nacht vor der tödlichen Jagd von einem Traum heimgesucht wird, in dem ihr Mann Siegfried von zwei wilden Schweinen (zwei wildiu swîn) über die Heide gejagt wird, bis die Blumen sich röten …

Kriegsrat: Es wäre sinnvoll, wenn auch der Bischof von Worms am Kriegsrat teilgenommen hätte, denn auch geistliche Fürsten stellten ein Aufgebot für den Heereszug und begleiteten ihre Leute oftmals auf dem Feldzug. Ich wollte die Szene aber nicht mit Figuren überladen.

Kriegsplan:

Die Ausgangslage dieses fiktiven Krieges ist eine sehr spezielle:

Das Burgund der Sage findet man natürlich nicht auf Landkarten; über dessen Ausdehnung kann man zwar spekulieren anhand der Namen der im Epos genannten Figuren (Ortwin von Metz, Volker von Alzey, und auch der Bischof von Speyer darf zweimal etwas sagen), aber schlussendlich bleibt alles vage. Die Burgunden interagieren im Epos mit Siegfried und dessen Leuten aus „Nederland“, mit Island, mit den Sachsen, den Dänen, auf der Fahrt in den Osten noch mit den Bayern, dem „Österreicher“ Rüdeger und an Etzels Hof mit den Hunnen, den Männern von Rüdeger den Leuten von Dietrich und mit den Thüringern.

Jetzt kann man natürlich fragen: Warum um Himmels willen sollen in dieser Fanfiction-Geschichte hier die Österreicher einen Krieg gegen Burgund führen wollen, wenn doch offenbar das ganze BAYERN zwischen ihnen liegt? Ist ja nicht so, dass ein Feldzug ein Spaziergang war. Warum sollten die Bayern sich darauf einlassen? Wer will schon einen Verbündeten haben, der erst einmal durchs ganze eigene Land ziehen muss, bevor er in Feindberührung kommen kann?

Antwort 1: Dass im Epos die Dänen den langen Weg auf sich nehmen, und im Verein mit Sachsen Burgund angreifen, zeugt auch von einer recht umständlichen Form der Kriegsführung. Außerdem ist zu bedenken, dass das Herzogtum Sachsen (im Epos ist es ein Königreich) sich bis 1180 weiter nach Westen erstreckte. Nachdem es Heinrich dem Löwen entzogen wurde, sind einige Teile abgetrennt worden (noch nachprüfen: z. B. Westfalen kam an den Erzbischof von Köln). Der unbekannte Dichter des Epos hat sich womöglich noch an die Zeit erinnert bzw. die Zeit erlebt, als Sachsen noch viel größer war. Da sich die Handlung des Lieds über viele Jahrzehnte erstreckt, ist es denkbar, dass er sich für den Sachsen- und Dänenkrieg, der zu Anfang der Geschichte spielt, ein größeres Sachsen vorstellte, so wie es möglicherweise seine Generation, aber zumindest die Älteren von früher noch kannten. Wenn man die politisch-geografischen Verhältnisse des 12. Jahrhunderts mit der Eposhandlung verbindet, müssen die Dänen für den Krieg gegen Burgund eventuell durch das Land ihres Verbündeten reisen. AHA! Wie bei mir.

Und darum habe ich gedacht, dass ich das so machen darf.

Antwort 2: Ich wollte halt eine spannende Handlung, hatte aber nicht genug Anrainerstaaten, die Kriegsgegner sein konnten.

Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 6

Ich habe keine Ahnung, wie ich dieses Kapitel nennen soll …

Das Kapitel hat 3700 Wörter, ist also mittellang bis lang. Die Anmerkungen schlagen mit 2000 Wörtern zu Buche! Dieses Mal gibt es auch viel zu erläutern.

Fünf Tage später ritt Hagen zu seiner Burg hinüber. Bevor er den Umritt antrat, plante er noch einige Maßnahmen anzustoßen. Mit Jubel eilten ihm die Burgbesatzung und das Gesinde entgegen, noch während er den Hang hinauftrabte.

„Herr, wie klug Ihr wart! Ihr habt uns Schwaben zum Bündnispartner und Freund gemacht!“

Er neigte sich vor ihren Lobreden. Begleitet von seiner Schar zog er in die Burg ein, sprang schwungvoll ab und gab Totenwache in die Obhut eines Pferdeknechts. Dann schritt er in die herzoglichen Kammern hinauf. Fortan waren sie die seinigen.

Mit dem Zeigefinger strich er misstrauisch über den Tisch – kein Staubkörnchen, wohlan. Am Rande des Tisches war jedoch ein Strauß Blumen aufgestellt worden von irgendeiner allzu wohlmeinenden Magd, und prunkte mit fröhlichen Farben. Den ließ er gleich hinaustragen – was sollten denn die Leute von ihrem neuen Herzog denken! Dass er umgänglich und liebenswürdig war? Unsinn!

Eilig ward Wein herbeigebracht; Pergament, Tinte und Federkiel standen schon bereit. Hagen schickte nach dem ersten, dem Schmied der Burg.

Der kam nach erfreulich kurzer Zeit, ein vierschrötiger Mann mit dem Kreuz eines Ochsen und sehnigen Händen, die er unbewusst an seiner Lederschürze abrieb. Notdürftig hatte er sich den Schweiß von der Stirn abgewischt, unter den Augen jedoch vergessen.

„Einen guten Mittag wünsch ich Euch, edler Herzog“, sagte er mit einer Lautstärke, die ihm nach langen Jahren des Befehligens über Hammerschläge und zischendes Wasser hinweg wohl in Fleisch und Blut übergegangen war. Umgeben von der Stille der herzoglichen Kammer, dem schweigenden Eichenholz und den reglosen Waffen zuckte er freilich selber zusammen vor seiner mächtigen Stimme.

„Danke“, sagte Hagen, und fügte hinzu, weil es immer klug war, sich die Zuneigung fachkundiger Leute zu gewinnen, „gleichfalls.“

Er deutete knapp auf den Stuhl gegenüber. Der Schmied nahm Platz. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Bewunderung ab. Vermutlich hatte er mit dem vorherigen Herzog niemals wie von gleich zu gleich reden dürfen.

„Heinrich“, sagte Hagen, „man hat mir berichtet, du seiest der beste deiner Kunst im ganzen Herzogtum. Stimmt das?“

„Ach, Herzog, mit Verlaub, das ist sehr freundlich, aber ich will ja nicht angeben.“

Hagen nahm seinen Schild neben dem Stuhl, einen prächtigen neuen, noch unbemalt, und legte ihn zwischen ihnen auf den Tisch. „Hierfür brauche ich deinen Sachverstand. Wär’s möglich, den zu versilbern?“

Der Schmied betrachtete das Holz. „Ja, durchaus. Nur dass ich kein Silber habe.“

Hagen beugte sich erneut herab und hob einen Beutel mit Münzen auf. Als er ihn neben dem Schild absetzte, klingelten sie hell. „Sieh hinein, und sag mir ehrlich, ob das genug wär für den Überzug und deine Entlohnung.“

Der Schmied tat wie geheißen und stimmte herzhaft zu. „Aber – warum? Die Versilberung macht den Schild zwar schwerer, doch nicht viel stärker.“

Hagen lehnte sich zurück und zog eine Braue hoch. „Ich will’s dir gerne zeigen, wenn er fertiggestellt ist. Dann wird er mehr Waffe als Abwehr sein.“

Er bedankte sich knapp und entließ den Schmied.

Die nächsten, die eintreten durften, waren ein Zimmermann seiner Burg und der Wormser Dombaumeister. Die Arbeit des letzteren hatte sich, so sagte Gunther, in den vergangenen Jahren darauf beschränkt, nach Unwettern die Türme auf- und abzuschreiten und sonst durchreisenden Zimmerleuten das Gebälk zu zeigen.

Im Gegensatz zum Schmied waren sie vom Umgang mit Edelleuten wenig eingeschüchtert, neigten sich tief und erklärten sich stets zu Diensten.

„Nehmt Platz, schenkt euch Wein ein.“

„Danke Herr, danke!“

Hagen stützte die Ellenbogen auf und legte die Fingerspitzen zusammen. „Kennt ihr Belagerungstürme?“

Der Burgzimmermann erstarrte verlegen und schielte zum Dombaumeister hinüber, in der Hoffnung, dessen Beschlagenheit möge sie beide retten.

Zu seinem Glück und zu Hagens Zufriedenheit nickte der Dombaumeister. „Ja doch. Im Osten und südlich der Alpen finden solche Bauwerke noch ihre Verwendung; hier in der Mitte des Abendlands hat man keine je gesehen.“

Der Zimmermann murmelte zu Bekräftigung: „Ganz richtig.“

„Gut“, sagte Hagen. „Ihr sollt mir einen bauen, hier vor meiner Burg, einen voll verwendungsfähigen. Stellt so viele Leute an, wie ihr braucht. Wann könnt ihr anfangen, und wie lange wird es dauern?“

Der Zimmermann griff schnell zum Weinkelch, damit er zu beschäftigt für eine Antwort schiene. Der Dombaumeister enttäuschte Hagen nicht: „Aber Herr! Wir sollen etwas bauen, das wir noch nie zu Gesicht bekommen haben? Wir sind völlig ratlos!“

Der Zimmermann stellte seinen Kelch erleichtert wieder ab.

Ich habe schon einmal Belagerungstürme im Einsatz erlebt, bei der Belagerung von Gran. Sonderlich anspruchsvoll dünkte mich der Bauplan nicht. Ich will euch Auskunft geben, soviel ich vermag.“ Er legte das Pergament vor den Dombaumeister hin, schob auch hilfsbereit dessen Weinkelch zu Seite, und, damit wirklich Platz genug war, den des Zimmermanns. Er hätte gar noch den Federkiel in die Tinte getaucht, wenn nicht zuvor der Anstand dem Dombaumeister zu flinkem Arbeitseifer verholfen hätte.

„Schildert mir alles, Herr, ich tue, was ich kann.“

Hagen beschrieb die Türme, und der Dombaumeister ließ die Feder übers Pergament fliegen, zeichnete mit raschen Strichen ein Bild nach Hagens Worten und kritzelte an den Rand wichtige Erkenntnisse. Auch der Zimmermann legte nun seine Scheu ab, beugte sich gebannt übers Pergament und steuerte ein paar Einwürfe bei. Bald gerieten sie in Fahrt, übernahmen den Gesprächsverlauf und stellten allerlei Fragen, die Hagen so gut es ging zu beantworten suchte. Als ihre Fragen immer fachmännischer wurden, von Dingen handelten, die seinem Laienauge nie aufgefallen waren, dann sogar Begriffe beinhalteten, die er noch nie gehört hatte, schlug er leicht die Hände zusammen und sagte: „Damit müsst ihr euch begnügen; bedenkt, dass ich ein Mann des Schwerts und der Reichsführung bin, nicht aber der Baukunst. – Also, könntet ihr mir etwas Derartiges bauen?“

„Es wäre äußerst schwierig, mit dieser kargen Grundlage, und bräuchte einige Zeit zur genauen Planung.“

„‚Schwierig‘ hör ich lieber als ‚unmöglich‘. Dann ist es ausgemacht, ihr baut mir einen solchen Turm, und, findet er meinen Beifall, werdet ihr mir bei Bedarf vor Feindesburgen weitere bauen dürfen. Was Geld betrifft“, er hob zwei Beutel vom Boden auf, „das müsste Anzahlung genug sein, und auch euer Stillschweigen abdecken. Die anderen Fürsten brauchen meine Pläne nicht zu kennen. Falls einer sich ebenfalls einen Turm bauen will, soll er seine eigenen Fachleute finden.“

Der Dombaumeister machte ein argwöhnisches Gesicht. Fürchtete er, dass Hagen Böses gegen seinen König vorhatte?

„Ich will mit allen Nachbarn im Frieden leben“, sagte Hagen, „doch ist es klug, wenn man statt auf die Aufrichtigkeit der Leute auf die eigene Wehrhaftigkeit baut. – Sollte euch der König nach dem Fortgang der Arbeit fragen, dürft ihr ihm jederzeit Auskunft geben, denn ich tue stets nur, was er gutheißt.“

Mit dieser Aufgabe versehen, schickte er beide wieder fort. Nun blieb noch einer zu empfangen, und wer das war, wusste Hagen selber nicht. Der Wahnsinn seines Vorgängers hatte dem herzoglichen Vermögen eine arge Wunde geschlagen: In blindwütigem Hass auf den Sohn, der keiner war, sondern nur ein Bastard, hatte der alte Herzog seine Schatzkammer leergeräumt und den kostbaren Inhalt im ganzen Land verstreut; in Abgründe geschüttet, in Quellen geworfen, in Seen versenkt. Nur einen Teil hatte man wiedergefunden, obwohl die Suche noch bis letzte Woche fortgeführt worden war. Verfluchter Narr! Jedes Mal brodelte der Zorn wieder auf, wenn Hagen nur das Wort „Gold“ vernahm.

Früher war das Herzogtum mit Gold und Silber wohlgesegnet gewesen – dank der Raserei des Alten hatte es die Hälfte seines Reichtums verloren!

Als Hagen vom Ende der Suche erfahren hatte, in der Pfalz zu Worms, waren – zu seinem Glück – der König und die Königsmutter dabei. Der Bote hatte die Hiobsbotschaft stammelnd überbracht; der Zorn traf Hagen wie ein Schlag, doch statt ihn wie sonst mit Kraft zu füllen, saugte er alle Stärke heraus, bis er nur noch eine leere Hülle war, in der das Herz wie irrsinnig schlug. Die Königsmutter bemerkte seine Erschütterung und führte ihn rasch zum nächsten Stuhl, indem sie erklärte, nie eine schlimmere Blässe gesehen zu haben, nicht einmal bei den Verblichenen auf dem Totenbett.

Ihm war so schwindlig, dass er den Boten nur mit fahriger Geste hinausschicken konnte; anstatt zu wüten und zu toben, musste er sich an den Armlehnen festklammern und hoffen, dass er nicht zur Seite kippte. Gunther reichte ihm einen Becher Wein, überspielte ihm zuliebe die eigene Empörung, und versprach mit tapferer Zuversicht, dass in bestimmt schon fünf Jahren die Schatzkammern wieder gefüllt wären wie vordem. Wäre Hagen nicht von der Anwesenheit einer Dame gehindert gewesen, hätte er sich einem Schwall Flüchen hingegeben; so aber konnte er nur immer wieder den Kopf schütteln und matt raunen: „Die Hälfte, die Hälfte!“

„Ihr Männer wendet den Reichtum ohnehin nur für den Krieg auf“, sprach Frau Ute, „und wenn du in nächster Zeit vom blutigen Handel mit Tod und Sieg Abstand nimmst, wird dein Herzogtum nicht darben müssen.“

„Immerhin gehören dir nun die reichsten Fische des Reiches“, sagte Gunther, und schlug großmütig vor, Hagen sogleich die Einnahmen aus dem Wachsregal zu verpfänden, ihm gar ganz zu überlassen. Auch riet er ihm leise, da Hagen das Münzregal besaß, rasch alle Münzen einzuziehen, neue prägen zu lassen, schlechter’n Werts natürlich, und den Gewinn der Schatzkammer einzuverleiben.

Letzteres wies Hagen von sich, und auf Ersteres musste er verzichten, da man ihn nur wieder Günstling heißen würde. Stattdessen bat er Gunther, ihm einen Mann zu empfehlen, der ihn in den leidigen Gelddingen leiten könnte und beraten. Sein König brauchte keinen Atemzug lang nachzudenken; ein triumphaler Glanz blitzte in seinen Augen, als er ihm versprach: „Da gibt es einen, ja, der geht mit dem Geld um wie du mit dem Schwert. Ich hab ihn selber schon des Öfteren zurate gezogen; bestens hat er sich bewährt. Den sende ich dir – aber du sollst ihn nicht hier empfangen, sondern fort von den rastlosen Mäulern der Leute.“

Jetzt würde er diesen Künstler des Geldes endlich zu Gesicht bekommen. Sein Knappe Friedrich trat ein und fragte, ob er den Mann hereingeleiten solle. Ganz große Augen machte er dabei; es schien gerade, als müsse der Gast drei Arme haben oder Ähnliches.

„Nur zu.“

Wie staunte Hagen, als der Mann eintrat! Seine Haut hatte einen dunklen Ton, vergleichbar dem der Byzantiner; die Haare waren von einem Schwarz, wie man es selten sah im Rheinland – am auffälligsten aber der gelbe Hut, und die übrige Tracht.

Es war ein Jude.

Tief verneigte er sich, und blieb auch nach dem Aufrichten bescheiden am Zimmerende stehen. – Nun, mit Geld kannte sich der zweifellos aus.

„Nimm Platz“, sagte Hagen. „Dein Name war?“

„Gerson, edler Herzog. Eigentlich hätte mein Vater Isaak zu Euch kommen sollen, nach ihm hatte der König verlangt, doch da er leider erkrankt ist – die Plagen des Alters! – schickte er stattdessen mich. Ich werde mein Bestes tun, Euch zu beraten, als spräche seine Stimme mit meiner Zunge.“

Der Sohn war nicht mehr jung, bestimmt schon fünfunddreißig; er hatte gewiss Zeit genug gehabt, sich im Geschäft des Vaters Sachverstand und Geschicklichkeit anzueignen.

„Mit was genau handelt dein Vater?“

„Mit allem, Herr: Spezereien, Stoffe, Pferde, Felle. Wir sind die erfolgreichste Händlerfamilie der Wormser Juden. Unsere Leute fahren hinauf bis zum bernsteinschweren Norden, bis zu den Tuchwebern der Franzosen, sie bringen aus Sizilien weißes Elfenbein und aus Spanien rotes Leder; nach Byzanz bringen wir Handschuhe aus Paris, und kehren mit Glas und Seide wieder zurück.“

Gut, gut. Sein König wusste, wen man fragen musste.

Unvermittelt blickte dieser Gerson ihm direkt in die Augen und sagte: „Die Juden des Landes sind Euch sehr dankbar, dass Ihr damals die Händler aus Worms gerettet habt.“

Die Hunnen hatten sie überfallen, blut- und beutegierig, und hatten viele der armen Leute erschlagen. Nur das Eingreifen der Geiseln hatte die übrigen vor ihrem Verhängnis bewahrt.

„Waren es Händler deines Vaters? Warst du auch dabei? Ich glaube nicht, dich gesehen zu haben.“

„Nein, gütiger Herr, wir führen die Geschäfte stets von Worms aus. Es waren die Wagen unseres Vetters, in unserm Auftrag unterwegs. Als er heimkam mit der traurigen Botschaft von neun geliebten Toten, brachte er auch die Kunde von dem burgundischen Helden mit, der ohne Furcht wie ein zweiter David den Goliath der Hunnenwut besiegte. Seitdem sprach nie mehr ein Wormser Jude, dass der jährliche Tribut hoch sei.“

Hagen musste sich eingestehen, dass ihm die Anerkennung schmeichelte. Damit er nicht den falschen Eindruck hervorriefe, er sei umgänglich und Süßholzreden zugetan, ging er freilich nicht weiter darauf ein. „Ich hab dich herbestellt, weil ich deinen Rat wünsche. Wie allgemein bekannt, stürzte mein Vater am Ende seines Lebens in den Rachen der Geistesschwäche und hat, man weiß nicht warum, sein ganzes Gold verschleudert im bittersten Wortsinn. Was nicht die Elstern auflasen, das ruht wohl auf ewig im Moosbett dunkler Wälder oder am Grunde der Flüsse.“

Der Händler zeigte, wie jeder Mensch von Verstand, gebührende Anteilnahme.

„Nun muss ich mich mühen, das Vermögen wiederherzustellen. Sag mir, wie geh ich dabei vor?“

Der Jude antwortete unverzüglich: „Ihr könntet die Abgaben Eurer Bauern von Naturalien in Geld umwandeln. Der König und einige Fürsten in fremden Ländern haben dies schon teilweise eingeführt, und es hat stets ihre Einnahmen gesteigert. Die Bauern ziehen diese Abgaben den echten vor; verständlich, denn wer statt einer Kuh eine Handvoll Münzen abgibt, behält die Kuh und hat im nächsten Jahr noch Milch und Kalb.“

„Gut, ich will’s erwägen. Und weiters?“

„Senkt die Zölle an der Krähenfels-Brücke. Sie sind seit Jahren zu hoch – nicht Eure Entscheidung war’s, ich weiß – und lenken die Händlerzüge stattdessen in die Grafschaft Eures Nachbarn Albrecht von Herstein, obwohl’s ein Umweg ist. Daran merkt Ihr, wie ungeliebt die Zölle sind.“

„Wohlan, ich werde darüber nachdenken.“ Eine gewisse Ungeduld überkam ihn plötzlich und Ärger; Ärger, dass er sich Dinge anhören musste, die er nicht wusste. – Einfältiger Stolz! Ruhe jetzt! Es lag keine Schande darin, den Verstand kundiger Leute zu nutzen zum eigenen Vorteil; außerdem sollte er sich ein Beispiel an seinem König nehmen: Der hörte mit Langmut jeden Tag Belehrungen an.

Der Jude brachte noch weitere Vorschläge vor, so viele, dass Hagen ihm schließlich auftrug, eine Liste zu erstellen, um sie an seine Ministerialen weiterzugeben. Er wollte den Juden schon fortschicken mit einer wohlbemessenen Dankesgabe, als der bescheiden anfügte: „Und Ihr könntet es den Juden erlauben, wieder in Eurem Herzogtum zu wohnen. Euer Vater hat die Leute meines Volkes vor dreißig Jahren ja vertreiben lassen. Ich kenne mindestens ein Dutzend, die sich mit ihren Geschäften nur allzu gern in Tronje niederließen. Es würde Eurer Schatzkammer zuträglich sein.“

Doch würde man Hagen dann nicht auch vorwerfen, sich zu verbrüdern mit dem Volk, das, in alle Winde versprengt, trotz der alljährlichen Karfreitagsfürbitte den Messias nicht erkennen wollte? Denen, die sich des Rechts auf Zins erfreuten und sich, so hieß es, allzu oft am Wucher ergötzten? So würden die Leute reden. – Ja denn, das war die Belebung des Handels ihm wert. Sollten die anderen nur spotten; später müssten sie ihn beneiden. Außerdem hatte Gerd ihn gelehrt, dass einst eine kleine Anzahl Juden um die Schonung Christi gebeten hatte; das „Kreuziget ihn!“ schallte nicht aus ihren Kehlen. Ihre Nachfahren machten sich später auf und ließen sich nieder in der schönsten Stadt. Darum waren Wormser Juden fromme Juden.

Dem scharfsinnigen Gerson verriet Hagen natürlich noch nichts von seinem Entschluss; er beschied ihn nur mit dem bewährten: „Ich will’s erwägen.“

Neuer Abschnitt ab hier:

Eine Woche später begann Hagen seinen Umritt. Als vornehmes Gefolge würden ihn einige Grafen und Dankwart begleiten. Gunther verabschiedete ihn auf dem Hof der Pfalz. Seine Erleichterung, alle wichtigen Entscheidungen vertagen zu können bis zu Hagens Rückkehr, war ihnen beiden offenbar. Die anderen Pflichten des Königtums, die Ausübung von Freigebigkeit und Liebenswürdigkeit, würde er auch ohne den ersten Vasallen aufs Beste erfüllen.

„Gute Reise, Herzog, und nimm froh die Ehren deiner Untertanen entgegen. Sie könnten keinen klügeren Herrn besitzen.“

„Danke, mein König. Und sollte doch ein neues Unheil herannahen, verzweifle nicht, schick mir unverzüglich einen Boten; ich komme sofort, und werd einen Tag früher da sein, als du vermuten wirst.“

Gunther sah zum Dom hinüber. „Ich bete jeden Tag, dass nichts geschieht. Burgund hat endlich Ruhe verdient.“

Sie umarmten sich. Schwungvoll sprang Hagen in den Sattel; sein Gefolge ebenso. Er grüßte einmal in die Runde, und sprengte dann zur Pfalz hinaus.

An den ersten Tagen der Reise gab es nichts Neues zu sehen: Dörfer, Klöster und Burgen waren ihm bekannt, und den Bewohnern war auch er kein neuer Anblick. Die Bauern auf dem Feld rannten herbei, wann immer sie den herrschaftlichen Zug erblickten, und trachteten mit aufgeregten Verbeugungen ihre Hingabe und Treue zu beweisen. Mit der einen oder andern Münze entlohnte er sie dafür. In den Klöstern bot man ihnen süßen Wein, versprach fromm und fleißig zu beten für all seine Unternehmungen, und bedauerte das Los seines Vorgängers. Zu jeder Burg ritt man hinauf und ließ sich gastlich empfangen. Die Herren der Burgen hatte Hagen am Tag seiner Herzogserhebung belehnt und ihren Treueid entgegengenommen; viele der Gattinnen, Söhne und Töchter traf er nun zum ersten Mal. Es war die immergleiche Mühsal: angestarrt zu werden wegen seiner blassen Haut, den Schauder der Leute geflissentlich zu missachten, und dann das umständliche Begrüßen mit Umarmen und Küssen. Ab und an kam es gar vor, dass sich ein Bengel oder Gör vor lauter Angst hinter die Röcke seiner Amme floh; das beantwortete er mit nachsichtigem Lächeln, aber die Eltern versetzte es stets in peinlichste Verlegenheit. Meist war es Dankwart, der dann mit ein paar heiteren Worten die Stimmung wieder aufhellte.

Ja, Dankwart erwies sich als vorzüglicher Reisegefährte, und Hagen müsste es sehr bereuen, wenn er ihn nicht mitgenommen hätte. Bereitwillig zeigte er ihm alle Furten, Mühlen und Waffenschmieden, wies ihn auf jeden umstrittenen Streifen Land hin, zeigte ihm die Besitzungen reichsimmediater Ritter und des Bischofs von Worms, wusste von jeder Pfründe, wem sie gehörte, und kannte, so schien es, jeden Handwerker und reichen Bauern im Land.

Am unverzichtbarsten erwies er sich jedoch im Kreise anderer Adliger, denn auf jeder Burg konnte er nicht schweigen, sondern erzählte gleich mit Seligkeit, dass seine Frau guter Hoffnung sei. Dabei strahlte er wie ein Kind über ein neues Spielzeug, und, bei aller gebotenen christlichen Anteilnahme – der Herrgott freute sich schließlich über jedes Kind – das war doch mehr als übertrieben. Selbst seinem König, wenn dessen künftige Gemahlin eines Tages ein Kind erwartete, würde Hagen mehr Mäßigung anraten: Es könnte ja auch nur ein Mädchen sein.

Dankwart aber übte sich ungezügelt in geradezu weibischer Entzückung. Während er plapperte über sein wachsendes Glück, vom Seufzen der Frauen noch angespornt, stand Hagen reglos daneben und warf ihm nur einen langen Seitenblick zu. Besser könnte man den Grafen und Rittern nicht beweisen, welcher der beiden Tronje-Brüder für die Herzogswürde geeignet war: Hier der Ältere, trunken von einer Kunde, an der sich sonst nur Frauen berauschten, und daneben der jüngere, der Hunnensieger, klaren Verstands und kühlen Herzens.

Danke, Bruder.

Ein paar der Grafen äußerten den Wunsch, mit ihm zu fechten – da stellte er sich gerne. Es ging auch nicht um Leben oder Tod – Gunther könnte ihn also nicht tadeln! Großzügig schritt er auch ein drittes oder viertes Mal zum Kampf, doch keine einzige Niederlage besudelte seinen Ruf. Versöhnlich reichte er den Geschlagenen die Hand, und linderte die Schmerzen ihres Stolzes, indem er sagte: „Ihr habt es mir arg schwer gemacht!“ Die Eingebildeten tröstete das sehr, und die guten Kämpfer hatten nun auch noch seine Bescheidenheit zu bewundern.

Wo immer er hinkam, ehrte man ihn und sein Gefolge mit Musik, Festmählern und flatternden Fahnen. Ein halbes Dutzend Vasallen planten wohl, ihm ihre Tochter als Braut aufzuschwatzen; mehr als einmal fand er ein solches junges Mädchen beim Festmahl zu seiner Rechten sitzen und unter langen Wimpern zu ihm herüberspähen, während der Vater von links all ihre vermeintlichen Vorzüge aufzählte.

Hagen ging überhaupt nicht darauf ein und sprach stattdessen von Schlachten.

Nach fünf Tagen erreichten sie die nördlichen Gebiete des Herzogtums; hier war er nie zuvor gewesen. Das unausweichliche Staunen der Leute nahm leider zu, man starrte ihn an wie einen scheußlichen Fremden. Eine Schar junger Bauerntöchter, eben herangesprungen, um Blumen zu werfen, stob unter Kreischen wieder davon, und so mancher Dorfpriester bekreuzigte sich entsetzt, ehe er das Grußwort an Hagen richtete.

Furcht und Abscheu bekümmerten ihn nicht, nein – wohl aber, dass der Schrecken der törichten Leute bei seinem Gefolge bisweilen Belustigung auslöste.

Eine Weile lang ritt er schweigend vor sich hin, grübelte nach, wie er die anderen rügen könnte, ohne dabei empfindlich zu wirken, und gab nicht mehr Acht auf seine Umgebung.

Erst als Dankwart scharf seinen Namen rief, gab er das Nachdenken bedauernd auf und wandte sich halb um. „Was ist denn?“

„Da hält ein Reiter auf uns zu!“

Dort hinten, ja, der Staub der Straße kündigte ihn an. Er kam von Süden, im schnellsten Galopp.

Hagen brachte sein Pferd zum Stehen und rief der Vorhut denselben Befehl zu. „Wir warten auf ihn“, sagte er seinen Männern, „falls es ein Bote aus Worms ist.“

Böse Vorahnungen erhoben ihr hässliches Haupt. Möge der Herrgott seinen König beschützt haben! Totenwache spürte seine Unruhe und stampfte mit dem Huf auf.

Weil das Warten ihm schließlich zu lange ging, trabte Hagen dem Reiter entgegen. Wortlos folgten seine Männer.

„Werd doch nicht blass“, raunte ihm Dankwart zu, „es wird schon nicht –“

Hagen brachte ihn mit einer harschen Geste zum Schweigen.

Der Mann erreichte ihn endlich. Adalbert von Starenheim war es, einer der besten Reiter des Reiches. Mit seiner Beherrschung von Pferd und Ross hätte er sich in Etzels Heer keine Schande gemacht. Nun waren Hengst und Adalbert schweißbedeckt, erschöpft vom schweren Ritt.

Dreimal wollte der Kerl ansetzen, doch vor Japsen und Röcheln versagte ihm die Stimme.

„Zum Teufel, fass dich endlich!“, fuhr Hagen ihn an.

Der Kerl griff in die Satteltasche und zog ein zusammengefaltetes Schreiben heraus. Hagen entriss es ihm. Einen Augenblick lang starrte er auf das Siegel: Es war mit dem Ring seines Herrn gemacht, aber derart schlecht auf das Wachs gesetzt worden, dass die Hälfte des thronenden Herrscherbildes nicht eingedrückt war.

Fahrig brach er es auf und entfaltete das Pergament. Erleichterung, dass es Gunthers Schrift war – jedoch kaum leserlich und von Tintenflecken übersät. Zweimal schien sogar die Feder abgebrochen zu sein.

Er überflog die Zeilen. Gunther hatte mehrmals die Sprache gewechselt, damit der Brief, falls abgefangen, von falschen Köpfen nicht gedeutet werden konnte. Im Latein waren ihm Fehler unterlaufen – nichts bezeugte deutlicher seinen Zustand beim Verfassen.

Oh, verdammt. – Der Herr möge ihm und seinem Pferd Kraft verleihen.

Hagen faltete das Schreiben wieder zusammen und steckte es ein. Seine Gefolgsleute starrten ihn mit atemloser Besorgnis an. „Wir kehren um, Männer“, sagte er hart. „Ich reite voraus. Ihr kommt nach, so schnell Ihr könnt.“

Anmerkungen:

Anmerkungen:

Dieses Kapitel enthält eine der schwierigsten Szenen des ganzen Buchprojekts. Weiter unten wird ausgeführt, warum.

Der silberne Schild: In der Thidrekssaga verwendet Hagen einen silbernen Schild, um die Feinde zu blenden. Der Erzähler merkt an, dass diese List in späteren Zeiten verboten worden sei – dementsprechend wirksam muss sie gewesen sein. Jetzt hat er auch im Worms-Buch einen silbernen Schild! Ist er nicht cool?!

Belagerungstürme wurden im Hochmittelalter nördlich der Alpen nicht verwendet, in Byzanz und Italien sind sie jedoch eingesetzt worden. Als Heinrich der Löwe auf dem Italienzug Zeuge ihrer Wirksamkeit wurde, ließ er sich im Reich derartige Bauwerke für seine eigenen Kämpfe herstellen. (Hinweis auf Buch über Albrecht den Bären, Seite einfügen)

Ein grober Bauplan wird auf einem Pergament skizziert: Lange habe ich überlegt, welches mittelalterliche Schreibmedium für eine solche Aufgabe geeignet wäre. Zum einen gab es Wachstäfelchen aus Holz oder Elfenbein, zum anderen Pergament. Der Größe der Wachstäfelchen waren gewiss Grenzen gesetzt; ich kann mir nicht vorstellen, dass sie für die Niederschrift erster Überlegungen zu einem komplexen Bauwerk geeignet waren.

Da Pergamente größer sein konnten, schließlich war die Haut auch bei den Tieren das größte Organ, halte ich es für grundsätzlich möglich, hier Pergament zu verwenden. Zwar ist dieser Beschreibstoff teuer, doch der Hof eines mittelalterlichen Herzogs sollte diese Ausgabe verkraften können. Außerdem kann bei Pergament die Schrift auch wieder mit einem Messer vorsichtig abgekratzt und neu beschrieben werden, was für die Niederschrift eines Entwurfs, und sei er architektonischer Natur, womöglich praktisch ist. Naja, vielleicht sind meine Überlegungen auch falsch, aber ihr seht, dass ich mir Gedanken gemacht habe.

„dass ich ein Mann des Schwerts und der Reichsführung bin, nicht aber der Baukunst“: Dieser Satz bedarf eigentlich keiner Erläuterung – aber ich habe beim Schreiben trotzdem an Bismarck gedacht, der von sich sagte, dass er von moderner Technik nichts verstehe. (Titel des Bismarck-Bildbands einfügen)

„doch statt ihn wie sonst mit Kraft zu füllen, saugte er alle Stärke heraus, bis er nur noch eine leere Hülle war, in der das Herz wie irrsinnig schlug“: Die Beschreibung des Zorns bleibt hinter dem Erlebnis weit zurück. Ich ließ mich hierbei inspirieren von meinen eigenen Wutanfällen, die ich in einer der schlimmsten Phasen meiner Depression mindestens einmal pro Tag erlebte. Das ist keine Explosion mehr, sondern eine Implosion; und dass das nicht gesundheitsfördernd ist, spürt man ganz genau.

Gunther rät ihm, „rasch alle Münzen einzuziehen, neue prägen zu lassen, schlechtern Werts natürlich, und den Gewinn der Schatzkammer einzuverleiben“: Nach langer Abwägung kam ich zum Schluss, dass die Hauptfiguren in meiner Geschichte keine Meister im Umgang mit Geld sein sollen. Das Epos selbst bietet mir eine mögliche Basis dafür. Nicht ausschlaggebend für meine Schlussfolgerung waren die teuren Feste, die Gunther im Epos ständig ausrichtet, denn diese sind als Machtdemonstration unverzichtbar für einen mittelalterlichen König, von dem erwartet wird, dass er die Tugend der milte, die Freigebigkeit, zelebriert. Dass die Burgunden jedoch Brünhilds Schatz von Dankwart verschleudern lassen und Hagen Kriemhilds Erbe, den Nibelungenhort, im Rhein versenkt, ist zwar machtpolitisch sinnvoll, um die Frauen fortan daran zu hindern, Anhänger um sich scharen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass bedeutende finanzielle Mittel einfach verloren sind. Hätten sie die Mittel nicht auch anderweitig verwenden können, um die eigene Machtbasis zu stärken? (Wobei die Versenkung des Hortes natürlich ein kraftvolles Bild und daher innerhalb der Geschichte richtige Lösung ist! Eine Frage aus der realen Welt: „Warum nutzen die das Geld nicht?“ an die fiktiven Akteure zu richten, wäre als Textanalyse gewiss falsch, aber als Grundlage für ihre Charakterisierung in einer Fancfiction-Story wohl gerade noch erlaubt.) Der Merowingerkönig Chilperich I. zum Beispiel, Halbbruder von Guntram und Sigibert, hatte keine Hemmungen, sich des Schatzes der Dynastie zu bemächtigen. Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck verwendete nach der Annexion des Königreichs Hannover das nicht unbedeutende Vermögen der Welfendynastie, um regierungsfreundliche Zeitungsartikel zu lancieren (Reptilienfonds). Also kam ich zum Schluss, dass die Wormser in meiner Interpretation nicht souverän im Umgang mit Geld sein sollen. (Einer von beiden ist sowieso viel zu „overpowered“.) Was Gunther seinem Lehnsmann hier vorschlägt, zeugt daher nicht von pekuniärer Weitsicht: Eine künstlich herbeigeführte Abwertung des Gelds ist selbstgemachte Inflation.

Der Jude Gerson: Sein Name ist inspiriert von Gerson (später von) Bleichröder, dem jüdischen Bankier von Otto von Bismarck. Auch Bismarck hatte im Umgang mit Geld seine Schwierigkeiten; vor allem in seinen jungen Jahren floss mehr ab, als hereinkam. Dank Bleichröders kluger Anleitung wurde er im Laufe der Jahre schuldenfrei. Bleichröder legte übrigens eine Steinsammlung an, die Steine von den preußischen Schlachtfeldern der Einigungskriege enthielt. Wilhelm I. kam einmal zu Besuch und hat sich die Steinsammlung angeschaut.

„Unsere Leute fahren hinauf bis zum bernsteinschweren Norden“: Händler verwendeten zum Transport keine eigenen Wagen, sondern ließen sich und die Ware gegen eine Entlohnung etappenweise von den Bauern der Region transportieren. Ist es nicht faszinierend, dass dadurch Angehörige verschiedener Religionen und Gesellschaftsschichten in Kontakt kamen?

„Es waren die Wagen unseres Vetters, in unserm Auftrag unterwegs“: Das widerspricht sich mit dem oben genannten; als diese Händler in Band 2 auftraten, wusste ich noch nicht, dass Händler meist auf Fahrzeuge von Anwohnern auswichen. Da die Juden in Band 2 jedoch eine lange Strecke durch eine wenig besiedelte Steppenregion reisen mussten, ist es möglich, dass sie kurz vorher eigens Wagen kauften. Noch sinnvoller wäre es gewesen, von Packpferden zu schreiben … Vielleicht wird das später angepasst.

„Senkt die Zölle an der Krähenfels-Brücke“: Zollsenkungen waren ein machtvolles Werkzeug im Mittelalter (und später auch noch). Mit der Befreiung von den Zöllen an den königlichen Zollstätten belohnte Heinrich IV. 1074 die Wormser „Juden und die anderen Bewohner von Worms“, weil sie ihm als einzige in der Zeit des Sachsenaufstands treu zur Seite gestanden hatten. – Die Zuerstnennung der Juden fand ich immer schon bemerkenswert. (Siehe „Worms. Eine Spurensuche“ von Ralph Häussler, S. 54–55). Die Brücke jedoch ist frei erfunden. Irgendwann muss die Recherchearbeit auch einmal aufhören, sonst werde ich nie fertig!

„eine Liste zu erstellen“: Das wirkt ja geradezu bürokratisch. Allerdings hat schon der Burgunderkönig Gundobad (gestorben 516) seinen Bischof und Berater in theologischen Fragen, Avitus von Vienne, in den erhaltenen Briefen gebeten, ihm eine (sogar kommentierte) Liste zu erstellen.

„Würde man ihm dann nicht auch vorwerfen, sich zu verbrüdern mit dem Volk, das, in alle Winde versprengt, trotz der alljährlichen Karfreitagsfürbitte den Messias nicht erkennen wollte? Denen, die sich des Rechts auf Zins erfreuten und sich, so hieß es, allzu oft am Wucher ergötzten?“: Das ist die wohl schwierigste Stelle des Buches. Der Antisemitismus in der mittelalterlichen Welt und in der katholischen Kirche ist allgemein bekannt: Dem Laien fallen als erstes Kreuzzugspogrome (auch in Worms), Ritualmordanschuldigungen und Vorwürfe der Brunnenvergiftung ein. Auch die vorgeschriebene Tracht war ein Mittel der Unterdrückung. In der Karfreitagsfürbitte in der katholischen Kirche wurde Gott gebeten, dass er die Juden der „Verblendung“ entreißen und zur Erkenntnis des Messias führen möge. Sie war (in ihrer tridentinischen Form) noch Jahre nach der Shoa in Gebrauch und wurde erst in jüngster Zeit langsam verändert. – Nun ist diese Geschichte, die ich schreibe, sehr trivial und in den Augen der Welt völlig belanglos – trotzdem finde ich: Den mittelalterlichen und kirchlichen Antisemitismus nicht zu erwähnen, hieße, das Leid zahlloser Menschen auszublenden. Ich empfinde es als Verantwortung, ihn zu thematisieren. Infolgedessen stellte sich mir die Frage: Wie füge ich den Antisemitismus der Zeit ein, ohne dass es zur mittelalterlichen Hassrede wird? Und wie lasse ich die Hauptfigur reagieren, die, auch wenn sie eine eigene Meinung hat, in ihrer Zeit verhaftet sein soll? Ich habe es wie folgt gelöst, und hoffe, es ist mir ordentlich gelungen:

Hagen erwähnt in seinem Monolog die Vorwürfe der Zeitgenossen, scheint sie jedoch teilweise in Frage zu stellen durch den Einschub „so hieß es“. Dadurch zeigt er sich als weniger empfänglich für hetzerische Parolen. Er beschließt, trotz der Kritik der Christen Gersons Rat anzunehmen und den Juden die Rückkehr zu erlauben. Allerdings ist hier nicht menschliches Mitgefühl, sondern reines Kalkül am Werk, als Beweis, dass auch Hagen als Produkt seiner Zeit Antisemitismus verinnerlicht hat: Die „gute Tat“ geschieht nur aus Eigennutz. (Wobei er ansonsten auch nicht als Menschenfreund angelegt ist und so gut wie jeden als Werkzeug sieht.) Die Geschichte von den „frommen Wormser Juden“, die sich gegen die Kreuzigung Jesu aussprachen, kursierte wirklich. Offenbar steht Hagen den Wormser Juden positiv gegenüber; doch selbst dies ist verdeckter Antisemitismus: Eine Minderheit zu loben, dass sie sich über die angebliche Minderwertigkeit ihrer Gruppe erhoben habe, ist immer noch diskriminierend. – Das würde ein Mensch des Mittelalters jedoch kaum begreifen; selbst manche heutigen Menschen verstehen das nicht. Also ist die fürs christliche Mittelalter typische Intoleranz gegenüber Juden bei ihm noch immer vorhanden, wenngleich in einer weniger aggressiven Form. Hätte ich ihn einfach zu einem weltoffenen Kämpfer gegen Antisemitismus gemacht, hätte dies die Schwere des Problems falsch dargestellt. Systemische Unterdrückung durchtränkt die ganze Gesellschaft und alle Interaktionen. Ich habe mich für eine nuancierte Darstellung entschieden, wobei es beabsichtigt ist, dass die Leserinnen klarer sehen als die Figur und eben auch seine Sympathie für die Wormser Juden als „unbewusstes Vorurteil/unconscious bias“ erkennen.

Ich könnte auch noch über die Darstellung der Figur des Hagen in verschiedenen Wagner-Inszenierungen sprechen, bei denen man ihm „jüdische“ Züge verlieh, doch das würde zu weit führen. Auf jeden Fall habe ich mir Gedanken gemacht.

 – Ich habe außerdem vor, Gerson noch öfter auftreten zu lassen, wobei zwischen ihm und Hagen ein respektvolles Arbeitsverhältnis entsteht.

„Ihr habt es mir arg schwer gemacht!“: Ich hatte früher einen Bekannten, der an Selbstverteidigungskursen teilnahm. Einmal erzählte er mir ganz begeistert, er sei gegen einen Meister in seiner Disziplin angetreten, völlig informell, bei einer normalen Trainingsstunde. Er habe verloren, doch der Meister habe ihm gesagt: „Es war mein härtester Kampf!“ Ich war so freundlich und verzichtete darauf, anzumerken, dass der Meister dieses Lob bestimmt an jeden verteilt …

„Dabei strahlte er wie ein Kind über ein neues Spielzeug, und, bei aller gebotenen christlichen Anteilnahme – der Herrgott freute sich schließlich über jedes Kind – das war doch mehr als übertrieben. Selbst seinem König, wenn dessen künftige Gemahlin eines Tages ein Kind erwartete, würde Hagen mehr Mäßigung anraten: Es könnte ja auch nur ein Mädchen sein“: Diesen Satz finde ich zugegebenermaßen ziemlich gelungen. Erst denkt man, die Pointe sei das Beckenbauer-Zitat („Der liebe Gott freut sich über jedes Kind“, gesagt von Franz Beckenbauer, das war ein Fußballer und Funktionär und irgendwas mit Bayern München und Katar), bis die eigentliche Pointe kommt: das Patriarchat! Auch wenn es lustig scheint, steht natürlich Wahrheit dahinter: In einem System, das Männern mehr Wert zuspricht als Frauen, wird die Geburt weiblicher Kinder zur Enttäuschung. Bekannte und weniger bekannte Beispiele, bewusst aus verschiedenen Zeiten und Regionen ausgewählt, um die weite Verbreitung der systemischen Geringschätzung von Mädchen zu betonen: Afghanische Männern kondolieren anderen Männern zur Geburt einer Tochter (siehe das Buch von Zarifa Ghafari), die Pakistani werfen einem Jungen Geld und Süßigkeiten in die Wiege, einem Mädchen hingegen nicht (siehe Buch von Malala), in Nordindien gilt: „Mögest du hundert Söhne haben“ als Segenswunsch für Frauen, Heinrich VIII. von England war besonders vergrämt über den Mangel an (körperlich fitten, legitimen Söhnen) und die alten Römer setzten weibliche Säuglinge sogar vor der Stadt aus. Darum ist es im Rahmen dieses ungerechten Systems nicht verwunderlich, dass Hagens Sorge darauf gerichtet ist, seinem König die Enttäuschung zu ersparen. Auch dies ist ein weiteres Element des Patriarchats: Mitgefühl, Empathie und Sorge empfinden Männer zumeist nur für Männer. Es ist fast schon rührend, dass Hagen, von mir als eiskalt konzipiert, seinen König geradezu fürsorglich vor einem Problem schützen will, das vom Patriarchat künstlich geschaffen wurde.

Jetzt ist das Kapitel aus.

Welche Bücher ich 2024 gelesen habe

Bereits 2023 habe ich jedes gelesene Buch in meinen Wh*atsapp-Status gestellt, meist mit einer Mini-Zusammenfassung (ein Satz). Ich selber finde die Status-Möglichkeit bei Wh*tsapp voll toll, denn das fühlt sich an, als würde man die anderen ausspionieren, und zugleich braucht man kein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie ja damit einverstanden sind!

Ich habe nicht viele Wh*atsapp-Kontakte, da ich wegen meiner introvierten Veranlagung und einer 5-jährigen Depression den Kontakt zu praktisch allen nicht mit mir verwandten Menschen verloren habe.

Und wenn einen ein Status nervt, kann man praktischerweise weiterspringen oder braucht ihn gar nicht erst anzuschauen.

Doch dann bekam ich nach Weihnachten die Rückmeldung, dass sich manche anderen „ungebildet“ fühlen, wenn ich dauernd Bücher poste und sie selber kein einziges gelesen haben. Es gab zwar auch Leute, die mir sagten, sie fänden es interessant und lustig, aber eine negative Kritik wiegt eben schwerer, das ist ein Naturgesetz.

Nun ist es nicht so, dass meine Verwandten im Elend leben. Urlaubsreisen, Feste, Vereine, interessante Hobbys, Fernsehen: Damit füllen sie ihre Freizeit. Dass sie dann eher weniger zum Lesen kommen, ist doch kein Vorwurf von mir! Jeder hat seine eigenen Prioritäten und verwendet seine Zeit den Prioritäten gemäß. Ich konnte wochenlang fast nur im Bett liegen, da mich sogar Treppensteigen erschöpfte. Lesen ging noch. Und da ich nicht auf Feste gehe, nicht in Vereinen bin, nicht verreise und auch sonst keine Hobbys habe, blieb mir Zeit für Lektüre.
Doch offenbar ist das arrogant und gemein.
Wenn mich nächstes Mal jemand von den „Gekränkten“ fragt, ob ich noch lese, sage ich aus Rücksicht auf ihr Ego: „Nein, ich schaue nur noch Filme“.

Darum kommt nun die gemeine, böse Auflistung. Wer es nicht ertragen kann und sich davon angegriffen fühlt, soll einfach wegklicken. Geht zu Reddit oder so. Oder stellt euch vor, das seien alles nur Comics.

  • The Prince and the Plunder. How Britain took one small boy and hundreds of treasures from Ethiopia
  • Frauen auf dem Zarenthron
  • Die Windsors. Glanz und Tragik einer fast normalen Familie
  • Deutsch sein und schwarz dazu. Theodor Michael
  • First People: The Lost History of the Khoisan
  • Frauenwunderland. Die Erfolgsgeschichte von Ruanda
  • Pakistan – Land der Extreme
  • I am Malala
  • Caritas Pirckheimer. Äbtissin und Humanistin
  • Die Samurai (C. H. Beck Wissen)
  • Churchill von Sebastian Haffner
  • Geschichte des Koreakriegs von Bernd Stöver
  • China verstehen
  • Marco Polo. Leben und Legende (C. H. Beck Wissen)
  • Hildegard von Bingen begegnen
  • Ein kleines Buch von Papst Benedikt zur Fastenzeit
  • The Happiest Man on Earth. The Beautiful Life of an Auschwitz Survivor
  • Geschichte Albaniens und der Albaner
  • Madeleine Pauliac, l’insoumise
  • Pius XII. begegnen
  • Johannes Paul I. begegnen
  • Empress: The Astonishing Reign of Nur Jahan
  • Benedikt XVI. und seine Wurzeln. Was den Studenten Joseph Ratzinger prägte
  • Afrika. Die 101 wichtigsten Fragen und Antworten von Prinz Asfa-Wossen Asserate
  • 1521: Rediscovering the History of the Philippines
  • Wunderwerk Frau
  • A Brief History of Misogyny
  • Genies der Lüfte. Die erstaunlichen Talente der Vögel
  • Leben. Meine Geschichte in der Geschichte vom Papst Franziskus
  • Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte
  • Bud Spencer. Kleine Anekdoten
  • Terence Hill. Kleine Anekdoten
  • Forgotten Ally. China’s World War II 1937–1945
  • The Nazis Knew My Name
  • Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter
  • Ein kleines Buch über das Johannesevangelium von Papst Benedikt XVI.
  • El Sucesor. Mis recuerdos de Benedicto XVI von Papst Franziskus
  • I, mammal
  • Was wollt ihr denn noch alles?
  • Die Reise unserer Gene
  • It’s Not You von Dr. Ramani
  • Female Monarchs and Merchant Queens in Africa
  • Ken Saro-Wiwa (Ohio Short Histories of Africa)
  • Die Hohenzollern und die Nazis: Geschichte einer Kollaboration
  • Patrice Lumumba (Ohio Short Histories of Africa)
  • Uncommon wealth. Britain and the Aftermath of Empire
  • A Cabinet of Byzantine Curiosities
  • The Color of Grace. How One Woman’s Brokenness Brought Healing and Hope to Child Survivors of War
  • Zieht euch warm an, es wird noch heißer von Sven Plögi
  • Battling Injustice: 16 Women Nobel Peace Laureates
  • Wo unser Wetter entsteht von Sven Plöger
  • Transportnummer VIII/1387 hat überlebt: Als Kind in Theresienstadt
  • Sowjetistan
  • De Kim-dynastie. Geschiedenis van Noord-Korea
  • Black Girl from Pyongyang
  • The Great Successor. The Secret Rise and Rule of Kim Jong Un
  • Der gute Deutsche. Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914
  • Hoch oben
  • The Girl with Seven Names
  • Rückeroberung. Die Geschichte von Manfred Gans, der im Mai 1945 Deutschland durchquerte, um seine Eltern aus dem KZ zu befreien
  • Gebrauchsanweisung für China
  • Africa is Not a Country
  • Amilcar Cabral (Ohio Short Histories of Africa)
  • Letzte Wege in die Freiheit. Sechs Pfadfinderinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus
  • Thomas Sankara (Ohio Short Histories of Africa)
  • Ich sang für die SS. Mein Weg vom Ghetto zum israelischen Geheimdienst
  • Mozambique’s Samora Machel (Ohio Short Histories of Africa)
  • Sind Tiere die besseren Menschen?
  • Africa plugged-in
  • Ten African Heroes
  • Mugabe (Ohio Short Histories of Africa)
  • Kwame Nkrumah (Ohio Short Histories of Africa)
  • Oh du, geliebter F*hrer. Personenkult im 20. und 21. Jahrhundert
  • Dictatorland. The Men Who Stole Africa
  • An African History of Africa
  • Wahrheit, Werte, Macht von Joseph Ratzinger
  • Das Geheimnis der Keltenfürstin. Der sensationelle Fund von der Heuneburg
  • Herrscherin im Paradies der Teuel. Maria Carolina, Königin von Neapel
  • In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation
  • Forgotten Women: The Scientists
  • Die apokryphen Evangelien (C. H. Beck Wissen)
  • Mujeres en la historia
  • Heinrich V. Der letzte Salierkaiser von Gerhard Lubich
  • Escape from the Ghetto
  • The State of Africa von Martin Meredith
  • Die Verlockung des Autoritären
  • Wie Wind unser Wetter beeinflusst von Sven Plöger
  • Weltrettung braucht Wissenschaft
  • Breaking Dawn
  • Worms-Buch 1,5 (zum ersten Mal seit 4 Jahren)
  • Worms-Buch 1 (zum ersten Mal seit 4 Jahren)
  • Worms-Buch 2 (zum ersten Mal seit 4 Jahren)
  • Worms-Buch 3 (zum ersten Mal seit 4 Jahren)
  • Die Grenze
  • Die unerzählte Geschichte. Wie Frauen die moderne Welt erschufen – und warum wir sie icht kennen
  • Eine Liebesgeschichte zwischen einem König und seinem wichtigsten Wächter auf Englisch
  • Mittelalter von Robert Fossier
  • Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erderwärmung
  • We are displaced von Malala Yousafzai
  • Spiegel-Buch Die Sklaverei und die Deutschen
  • Frauen in Indien. Leben zwischen Unterdrückung und Widerstand
  • Big Sister, Little Sister, Red Sister
  • „Versuche, dein Leben zu machen“ von Margot Friedländer
  • Die Tänzerin von Auschwitz
  • Der kleine Frieden im großen Krieg (Weihnachtsfrieden 1914)
  • Das Mittelalter auf der Nase. Brillen, Bücher, Bankgeschäfte und andere Erfindungen des Mittelalters
  • Left to Tell. Discovering God Amidst the Rwandan Holocaust
  • Avitus von Vienne. Letters and Selected Prose
  • Rätsel Lichtensteinhöhle
  • Terence Hill – Die Biografie
  • Die Angst kam erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand 1939–1945
  • Sonderbehandlung. Meine Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz

Ziehen wir ein Fazit:

2024 standen Frauen und Afrika nach der Dekolonialisierung im Fokus.

Absolute Leseempfehlung von mir:

  • Empress. The Astonishing Reign of Nur Jahan
  • Das Geheimnis der Keltenfürstin über die Funde von der Heuneburg
  • Thomas Sankara
  • An African History of Africa
  • I Am Malala
  • Amilcar Cabral
  • Die Tänzerin von Auschwitz
  • Zieht euch warm an, es wird noch heißer!
  • Madeleine Pauliac, l’insoumise
  • Die Hohenzollern und die Nazis: Geschichte einer Kollaboration
  • Sowjetistan

Das abgefahrenste Thema:

In Männerkleidern

Die anspruchsvollsten Bücher:

  • Heinrich V. Der letzte Salierkaiser (da es ein anspruchsvolles Thema mit einem entsprechend anspruchsvollen Schreibstil ist)
  • Die anderen Bücher beschreiben unfassbares Leid und abgrundtiefe Bosheit der Menschen:
  • Left to tell. Discovering God Amidst the Rwandan Holocaust
  • Forgotten Ally. China’s World War II 1937–1945
  • Sonderbehandlung. Meine Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz

Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 5

Dieses Kapitel braucht noch einen Titel! Ich habe es übergangsweise „Ein ungleicher Kampf“ genannt, doch das ist nicht der Weisheit letzter Schluss.

Es hat 3000 Wörter, ist also mittellang. Nachdem wir den Schwaben-Handlungsstrang beendet haben, ist das folgende Kapitel zunächst eine Art Atempause. Es geht um Character Building und Atmosphäre. Allerdings wird darin auch die Grundlage für einen späteren Handlungsstrang gelegt. Würde Hagen wissen, welche Folgen sein Verhalten später für ihn haben wird, würde er vielleicht anders reagieren …

Nach 16.000 Wörtern, in denen noch kein Schwertstreich gefallen ist, kommt es jetzt zum ersten Mal in Worms-Buch 4 zu einem Kampf! Außerdem mögen wir es doch immer, wenn a) Hagen impulsiv handelt und b) wenn die beiden Hauptfiguren miteinander interagieren. Nachdem sie in den vergangenen Kapiteln harmonisch zusammen Ränke schmiedeten, gibt es hier einen Streit, bei dem Gunther zu 100 % im Recht ist und er Hagen gewaltig die Meinung sagt.

Jetzt geht’s los:

Unter Jubel und Lobpreis kehrten sie wieder nach Worms zurück. Gunther gab die Herzogin mit ritterlich verhohlener Erleichterung in die Obhut der Königsmutter Ute und ihrer Frauenschar; sie würden die Schwäbin mit dem vielfältigen Flitterkram des Weiberdaseins rasch von ihren Einmischungsversuchen in die Leitung des Herzogtums abbringen.

Sie wiesen dem Knaben die besten Lehrer zu, gaben ihm eine geräumige Kammer weit weg von seiner Mutter, und beschlossen, dass es ausreiche, sich alle fünf Tage über den Fortgang seiner Studien und das Gedeihen der Freundschaft zu seinem Gastgeberreich zu unterrichten.

Ein zweitägiges Fest bildete den glanzvollen Abschluss der Schwabenangelegenheit. Gunther bewies dabei eine Geduld, wie Hagen sie nur bewundern, nicht aber nachahmen konnte; er war die ewige Anwesenheit anderer und ihr endloses Gerede über Nichtigkeiten inzwischen völlig leid, und sehnte sich beinahe verzweifelt nach einigen Stunden Ruhe und Ungestörtheit. Am ersten Festtag hatte er sich noch zusammennehmen können und umgängliche Heiterkeit zur Schau gestellt – am zweiten war es ihm Verstellung genug, er schickte alle Langmut zum Teufel und verschanzte sich hinter Grimm und Schweigen. Das hatte zum Ergebnis, dass ihn nur noch die Unbedarften, die Tollkühnen und sein König ansprachen.

So stand er, an eine Säule gelehnt, den wackeren Genossen, den Weinkelch, in der Hand, und betrachtete die Menge der Tanzenden in der Saalesmitte. Die Kerzenflammen waberten im Rhythmus der Sprünge, und ihr Widerschein blitzte als Myriaden Lichtfunken über Edelsteine, Ringe und Stirnreifen. Volker von Alzey – einer der Tollkühnen ohne Zweifel – hatte ihm vorher umständlich zu erläutern versucht, dass der Endreim dem Stabreim in Liebesliedern stets überlegen war. Zudem hatte er seinen Vortrag immer wieder unterbrochen, um mit der Musik der fahrenden Spielleute mitzusummen und dann vor sich hinzumurmeln, an dieser oder jener Stelle hätte er die Weise abgeändert.

Hagen vertrieb ihn schließlich, indem er sagte: „Was soll’s – das Schwert ist immer mächtiger als die Fiedel, denn so ein Holzding kann das Schwert einfach zertrümmern!“

Eine Viertelstunde später erschien ein Knappe und überbrachte ihm die königliche Mahnung, er solle zum einen die Empfindlichkeit einer Künstlerseele beachten, und zum andern mit dem Wein etwas besser haushalten. – Natürlich, nur noch dieser eine Kelch oder zwei. Für seinen König mäßigte er sich gerne!

Sonderbare Musik, dass sie die Leute alle zum Mitwippen anspornte. Selbst die Bischöfe an der Tafel konnten sich eines verhaltenen Fingertrommelns nicht erwehren. Wirklich sonderbar.

Oh, da kam wieder jemand auf ihn zu. Dankwart. Um so wie der zu strahlen, müsste Hagen schon drei Stunden lang besoffen sein, aber auch nur an einem Tag, an dem er in einem Turnier gewonnen hatte.

„Hei“, sagte Dankwart sacht. „Falls du vorhast, irgendwann noch deinen Herzogsumritt zu beginnen, dann kann ich gerne mitkommen, um dir Wegführer zu sein und dir über alles Auskunft zu geben. Aber in sieben Monaten nicht mehr – dann braucht mich meine Frau.“ Er erschien vergnügt wie ein Welpe.

Dankwart als Begleitung mitnehmen? Auf keinen Fall! Die Lehnsmänner und alle Leute würde das zu ständigen Vergleichen verlocken, und da die Leute einfältig stets das bevorzugen, was sie schon kannten, fiele das Urteil selten zu Hagens Gunsten aus! Es hieße dann immer: ‚Seht nur den Dankwart mit seinem liebenswerten Wesen! In unsrer Mitte ist er herangewachsen, ein Sohn des Landes fürwahr! Der andere dagegen, ein Spross der Steppe; hinter jedem Lächeln lauert die Schärfe eines harten Willens. Er soll ja ein vortrefflicher Krieger sein, aber wir mögen ihn nicht, oh nein!‘

Er sollte Dankwarts Angebot freundlich ablehnen. „In der Tat plane ich, in nächster Zeit –“

Dankwart unterbrach ihn atemlos: „Weil ich nämlich Vater werde!“

Hoffentlich war’s kein Sohn, sonst bedauerte man gewiss, dass der Junge einst nicht erben durfte! Hagen hob den Becher. „Auf das Wohl von Mutter und Kind.“

Dankwart gab sich so hingerissen, als müsste es ihn fast zerreißen. „Ich sag’s dir, mit keiner anderen Frau hätte ich dieses Übermaß an Seligkeit je kennengelernt! Nichts hat mein Glück mehr befördert als die Verbindung mit Agnes, und müsste ich mich erneut entscheiden – ich gäbe freudig jedes Herzogtum dieser Welt hin, um sie zu bekommen.“

Dass der selbst nach drei Monaten Ehe noch derart betört war – Hagen sollte es recht sein; wenn Dankwart seine unmännliche Hingabe an ein Weib fleißig zelebrierte, fänden sich mehr Befürworter seiner Enterbung.

Vielleicht nähme er ihn doch auf den Umritt mit.

Neuer Abschnitt ab hier:

Der nächste Tag sah den immerregen Wormser Hof endlich einmal zurückhaltend. Die magere Teilnahme am frühen Gottesdienst gab dem Bischof Anlass zu heftigem Tadel, was freilich nichts nützte, da diejenigen, die der Grund seiner Empörung waren, nichts davon hörten.

Danach verabschiedete Gunther seine Gäste, geordnet nach Rang und Namen. Den Schwaben, die ihren Herzog bis zum Rhein geführt hatten, gab er das Geleit bis vor die Tore der Stadt.

Drauf kehrte man zurück in die Pfalz. Gunther ordnete an, dass jeder jetzt seinen eigenen Angelegenheiten nachgehen dürfe. Für ihn und Hagen hieß das, den Mittelpunkt der allgemeinen Beachtung für eine hart verdiente Stunde oder zwei verlassen zu können.

Er lud Hagen in die königlichen Gemächer ein, und Kriemhild ebenfalls. Zwei Knappen trugen ihr eine Kiste aus Kirschholz hinterher und stellten sie schnaufend auf dem Tisch ab. Taube Claudius geriet darüber in helle Aufregung und flatterte eine Runde durchs Zimmer.

„Hagen, rat nur, was drin ist!“, sagte Gunther lebhaft.

„Hoffentlich nicht der gesamte Inhalt der Schatzkammer.“

„Was? Unsinn, der passte nie in eine einzige Kiste. Nein, es sind Bücher!“

„Aus dem Kloster Lorsch“, warf Kriemhild ein. „Ich hab sie ausgewählt.“

„Ich hab’s meiner Schwester aufgetragen, bevor wir nach Schwaben gezogen sind. Jedes Vierteljahr leihen wir bei den Abteien ein paar Dutzend aus.“

Kriemhild drehte den Schlüssel um und stemmte den Deckel hoch. Zwei Stapel ledergebundener Codices warteten verheißungsvoll auf einen, dem sie ihr Wissen offenbaren durften. Früher, als Hagen Gerds mustergültiger Schüler gewesen war, hätte ihn bei diesem Anblick rasende Begeisterung gepackt. Jetzt erfüllte ihn die Gegenwart der Bücher immerhin noch mit der Überlegung, ob er zwischen Reichsführung, Umritt und täglichem Schwertkampf für zwei oder drei wohl noch Zeit finden könnte.

Kriemhild holte ein Pergament heraus. „Der Abt sendet viele Grüße und beglückwünscht den König zu seinem auserlesenen Geschmack. Er hat auch ein Buch mit erbaulichen Heiligengeschichten für die Damen beigelegt, leicht verständlich, wie es angemessen ist, denn die Speise des Wissens sei dem schönen Geschlecht nur in kleinen Dosen bekömmlich. – Da ist ja mein Buch über den gallischen Krieg! – Hier, das wird dir gefallen, frommer Bruder, die Lorscher haben ganz neu einen Codex aus St. Gallen kommen lassen und kopiert: einen Beda Venerabilis!“

Gunther nahm ihr das Buch sofort aus der Hand und blätterte ehrfürchtig darin herum. Dann legte er es zur Seite und fragte: „Sind auch Väter dabei?“

„Natürlich. Ich dachte mir, dass du auf ein Werk von Ambrosius nicht verzichten wolltest; es wurde auf der Reichenau abgeschrieben und ist von den Lorschern eben erst geprüft worden. Sie haben es gerade wieder zurückschicken wollen, als ich davon erfuhr und in deinem Namen Veto einlegte. Wie hab ich das gemacht?“

„Hervorragend wie stets! Und da ist das Kompendium der Vätertexte, von dem ich dir erzählt hab.“ Er nahm einen besonders abgegriffenen Band heraus und überreichte ihn Hagen. „Wie man sieht: vielgeschätzt und vielgeliebt. Ich ließ ihn wohl schon siebenmal nach Worms bringen, als ich noch Thronerbe war.“

„Dann lass ihn doch nun abschreiben für die Hofbibliothek.“ Er überflog ein paar Absätze. An den Rand der Seiten waren, in unterschiedlichen Handschriften, knappe Marginalien notiert worden, zur Hervorhebung besonders wichtiger Stellen: „utilis ratio“, „optima ratio“ und dergleichen. Auf einer Seite erkannte er Gunthers ordentliche Schrift, und darunter, das – durfte er seinen Augen trauen? Das stammte von Bischof Gerds schwungvoller Hand. Vor über zehn Jahren hatte er dieses Buch gelesen, und das Pergament bewahrte treu sein Andenken. „Oder lass die Mönche die Abschrift behalten, und füge genau dieses deiner Sammlung bei.“

Kriemhild wollte seine Aufmerksamkeit erregen und schlug ihn leicht auf den Arm. „Das hier sind die ersten zwei Bände der Lorscher Chronik über die Herrschaft meines Vaters. Ich dachte mir, es schadet nicht, wenn du hineinschaust; es ist wohl nicht mehr viel, aber doch manches, was dir unbekannt ist über all die Wirren der letzten Jahre.“

„Bestens, vielen Dank.“

Gunther war schon ins nächste Buch vertieft; nun sah er auf und zeigte ihnen, wie gründlich der Exeget am Rande die Urheber jedes Gedankens aufgeführt hatte; Kürzel gaben Namen und Werk an, und meist noch das entsprechende Kapitel. Kriemhild wollte gerade die nächsten Codices aufschlagen, als draußen im Hof Lärm entstand.

„Oh, was ist denn“, murmelte Gunther, legte sein Buch beiseite und trat ans Fenster. Hagen folgte ihm; Kriemhild sagte, sie lasse sich nicht stören vom Grölen des Pöbels.

Doch es waren nicht viele, die diesen Aufruhr veranstalteten, sondern einer allein: Er stand in der Mitte des Hofes, gerüstet und gewappnet, und forderte lauthals den besten Kämpfer heraus. Seinem forschen Zungenschlag nach musste er ein Bayer sein.

„Meint er mich?“, fragte Hagen. „Wenn ich hinuntergehe, wirft man mir dann Hochmut vor?“

„Nein, bleib hier. Der Herzog von Tronje braucht nicht den Launen eines dahergelaufenen Bayern zu gehorchen.“

Hagen zuckte die Schultern und ging zurück zu den Büchern. Lange konnten sie sich den Schätzen des Lorscher Skripturiums leider nicht mehr widmen, denn kurz darauf klopfte es an der Türe. Ohne den Diener ausreden zu lassen, sprang Giselher herein. „Habt ihr’s nicht gemerkt? Es steht ein Kämpfer auf dem Hof, der –“

„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach ihn Gunther, „wir sind ja nicht taub.“

„Gut! Denn alles wartet schon gespannt auf Hagen!“

„Auf den besten Kämpfer“, sprach Kriemhild und drehte versonnen eine Haarsträhne um den Finger.

Gunther seufzte überdeutlich. Dann schlug er mit einer wohlbemessenen Geste grimmiger Endgültigkeit den Kistendeckel zu. „Wir schauen, was der uneingeladene Gast von uns will. – Nicht du, Kriemhild! Du bleibst hier.“

Mit mäßiger Geschwindigkeit schritten sie durch die Gänge; Giselher wollte ihnen vorausrennen und ihr Kommen den Versammelten ankündigen, aber Gunther hielt ihn zurück. Recht so. Sollte der Fremde nur warten!

Als sie in den sonnigen Hof hinaustraten, brachen die Scharen in Jubel aus. Schon mehrere hundert hatten sich zusammengefunden, Ritter, Gesinde, Stadtbürger und Reisende.

Gunther blieb auf dem Absatz der Saalstiege stehen und hob die Hand. Schweigen strich über die Menge hin. „Was soll die Unruhe, liebe Wormser?“

Eine Vielzahl von Stimmen antwortete ihm zuerst, und man verstand kein Wort; nachdem die Rücksichtsvollen von selber verstummten und die Schwerfälligen zur Ruhe gezischt worden waren, gab der Fremde laute Antwort: „Ich bin Egbert von Krummenstein, Vasall des Herzogs von Bayern. Ich bin der beste Fechter des Jahrhunderts, und wer’s nicht glaubt, dem werd ich es beweisen. Zehn Ritter hab ich schon besiegt, im noblen Kampf zu zweit. Da mein Schwert längst noch nicht gesättigt ist, sein Stahl noch immer Durst verspürt, gelüstet’s uns nach einem neuen Gegner. Nun hörte ich, in Burgund gäb’s einen ansehnlichen Krieger, Sieger über Etzel – ist das wahr?“

Hagen beschied sich mit Schweigen. Genug andere antworteten für ihn.

„Gut“, rief der Ritter, „das klingt recht vielversprechend. Vielleicht wird er’s mir schwerer machen als die andern, weil bei denen war es ein Spiel für mich.“ Er deutete mit langem Arm zum Sattel seines Pferds hinüber, von dem zehn Ringe herabhingen. „Das hier sind die Beweise meiner Heldentaten, jedes Besiegten Siegelring! Wenn Ihr unterliegt, Herzog, wird Eurer sich dazugesellen.“

Jaja.

„Nehmt Ihr den Kampf an, Tronjer?“

Die Leute kreischten und jubelten; Hagen bedeutete ihnen, sie sollten stille sein.

„Ihr wollt meinen Ring im Falle Eures Sieges – doch was versprecht Ihr mir, wenn ich gewinne?

Der Bayer regte sich voll Genuss. „Das Leben.“

Hagen entfuhr ein trockenes Lachen.

Während die Leute sich drüber erheiterten, dass einer Hagen von Tronje mit der Aussicht auf nichts zum Kampf reizen wollte, drückte Gunther drängend seinen Arm und raunte: „Geh nicht drauf ein. Der ist nicht ganz bei Sinnen.“

„Das glaub ich auch.“

„Ja“, rief der Bayer volltönend, „das Leben wird der Siegespreis sein! Und der Verlierer bekommt den Tod! Das sind die Regeln meines Kampfes. So einfach ist das!“ Er deutete spöttisch auf Hagen. „Nehmt Ihr meine Herausforderung an?“

Beifall und Gejohle brachen los wie ein Sturm. – Was für ein Tor. Eine kleine Scharte könnte sein Stolz gut vertragen.

„Nichts da“, zischte Gunther mit ungeahnter Heftigkeit, „sag ihm, dass er sich Gegner seines Ranges suchen soll, und mein erster Vasall ist nicht Spielgefährte eines Narren.“

„Aber er ärgert mich.“

„Hehe!“, schrie der Bayer aus Leibeskräften, „Ihr schwankt noch und zögert? Ihr tut gut daran! Denn das Ergebnis, einmal erzielt, lässt sich nicht wieder rückgängig machen! Seid Ihr klug, so klug, wie man Euch zuschreibt, dann nehmt Ihr die Herausforderung nicht an! Feigheit hat schon viele gerettet.“

Hagen lächelte.

„Nun wartet einmal“, rief Gunther zum Bayern hinab, „denn ich bin noch unschlüssig, ob ich Euch als Gast oder als Friedensstörer empfangen soll.“ Und leise zu Hagen: „Der ist verrückt. Wir lassen ihn unbeschadet fortziehen.“

„Ja. Ich entwaffne ihn.“

„Nein! Ein Herzog braucht nicht auf das Gebell eines Köters einzugehn.“

„Es ist kein Aufwand. Geht ganz schnell.“

„Du könntest zu Tode kommen, zum Teufel! Wegen eines kläffenden Fremden gefährde ich nicht meinen wichtigsten Ratgeber!“

Der Zorn stieg auf wie Galle. Dreiundzwanzig Schlachten, der Kampf gegen Etzel, keiner reichte an seine Meisterschaft heran – und sein König fand noch immer Anlass zur Sorge? „Dann seh und staune“, sagte Hagen tonlos, wandte sich um und stürmte die Stiege hinunter in vier großen Sätzen. Beim letzten Sprung zog er das Schwert, landete mühelos und rief: „Los, Ihr fallt mir lästig!“

Was kümmerte es ihn, dass er weder Rüstung noch Schild trug, der Bayer dagegen mit dem Kettenhemd beschirmt war? Es machte keinen Unterschied.

Egbert der Bayer war bei seinem Ansturm überrascht zurückgewichen; schnell ergriff er den Schild und zog die Waffe. Das gab Hagen Zeit genug, um zu entscheiden, ob er das Ende des Zweikampfs hinausziehn oder den Toren gleich sofort niederstrecken wollte. Jajaja! Sein König sollte erkennen, wie er zu fechten imstande war!

Es wurde der kürzeste Kampf, den die Pfalz zu Worms je gesehen hatte. Der Staub von Hagens Landung hatte sich noch nicht gelegt, da lag der Bayer schon am Boden. Hagen steckte beide Klingen durch den Sehschlitz des Helms.

Die Leute verharrten atemlos.

„So viel zu Eurer Herausforderung“, sagte Hagen mit stählerner Stimme. „Mein Vorschlag für die Strafe des Verlierers: Der Ausgang des Gefechts soll noch schlimmer sein als der Tod – denn der Unterlegene wird verschont und muss mit der Schmach der Niederlage leben!“

Er zog geschwind die Klingen aus dem Sehschlitz; das Schwert des Bayern warf er unbeeindruckt neben ihm zu Boden. Er gab vor, die Raserei der Zuschauer nicht zu hören, und schritt die Stiege hinauf, so unbekümmert, als habe er lediglich eine Mücke fortgescheucht.

Auf halbem Weg holte ihn Kriemhild ein, hatte vermutlich von einer Seitentüre aus zugeschaut, und war ihm jetzt hinterhergeeilt. Die hörte auch nie auf ihren Bruder. Er wandte sich halb zu ihr. Sie nahm seine Hände. „Mein wilder Fechter! Ich weiß gar nicht, ob es dich ehrt oder beleidigt, wenn ich dich zum Sieg beglückwünsche – derart mühelos war es!“

„Es ist nicht der Rede wert.“

Sie ließ seine Hände wieder los und suchte stattdessen, den Staub von seinem Gewand abzuklopfen. Da gab es freilich nicht viel zu finden. Nachdem sie etwas an seiner Schulter herumgezupft hatte, gab sie vergnügt wieder auf. Sie spähte an ihm vorbei auf den Hof hinab. „Dein armseliger Widersacher ist nicht mehr keck wie vorher.“

„Geschieht ihm recht.“

Er stieg die verbleibenden Stufen hinauf. Oben erwartete ihn sein König. Dessen Miene zeigte Hagen genau, welch ein Gewitter sich nachher über ihm entladen würde.

„Jetzt hat er Demut gelernt“, sagte Hagen leichthin. „Möge es ihm zum Vorteil gereichen.“

Ein Wächter trat an Gunther heran. „Wie sollen wir mit dem Fremden verfahren, Herr? Sollen wir ihn von dannen jagen?“

„Gebt ihm einen Schlauch Wein, ein Bündel Essen, und wünscht ihm – gute Reise.“

Eilfertig gab der Wächter die Anweisung weiter.

„Bist du Hagen böse?“, fragte Kriemhild. „Ich bin es nicht, ich hatte völliges Vertrauen in seine Kampfkünste.“

Gunthers Blick glitt zu ihr und verlor dabei nichts an Härte. Er deutete Richtung Kemenate.

„Fort mit dir. Der Bayer starrt schon her. Ich will nicht, dass du vor Fremden herumtänzelst.“

Sie atmete nur unwillig aus und ging dann gehorsam davon.

Gunther sah ein letztes Mal in den Hof hinab. Dann bedeutete er Hagen unwirsch, ihm zurück in den Palas zu folgen. Kaum waren sie den fünfhundert Augen der Leute draußen entkommen, als Gunther herumwirbelte: „Bist du denn immer noch besoffen? Was hast du dir dabei gedacht? Rennst einem Wildfremden vor die Klinge, und auch noch –“, er versetzte ihm einen Stoß gegen die Brust, „ohne Rüstung?“

„Mein König, seid ohne Sorge. Ich kann Gefahr sehr wohl einschätzen, ich hab in dreiundzwanzig –“

„Schlachten, jaja! So unbesiegbar bist du nicht gewesen, sonst sähe deine Haut nicht aus wie ein Fischernetz!“

Das tat weh.

„Größte Torheit, dich einfach vom Gefasel dieses Niemands reizen zu lassen!“

„Ich wusste, was ich wagen darf. Mich ehrt deine Empörung, aber sie tut nicht not.“

„Um Himmels willen!“, rief Gunther, „ich machte dich wegen deiner Klugheit zum Herzog, nicht wegen deiner Kampfkunst. Heute merkte ich freilich nichts von deiner Vernunft!“

„Warum soll ich mich feige –“

„Weil es ein Kampf war auf Leben und Tod! Hätte er kämpfen wollen wie bei einem Turnier, dann nur zu, fechte so lang du willst, und ich würd drei Goldbarren auf dich wetten – aber wegen einer Torheit wie dieser will ich nicht meinen besten Berater verlieren, und Freund! Wenn“, er fuchtelte vage Richtung draußen, „wenn du gegen, gegen hundert Männer kämpfen würdest, dann würdest du bei achtzig mühelos gewinnen, ja – bei zehn wär es schwer, und bei den andern zehn, da könnte gar einer dabei sein, der dich besiegen würd. Und –“

„Du magst Recht haben. Mir war es allerdings von Anfang an bewusst, dass dieser hier zu den achtzig gehört.“

„Jeder kann sich täuschen. Im Übrigen – wüsste ich’s nicht, würd ich nie vermuten, dass du Etzel besiegt hast. Also lass die Sturheit und sieh endlich ein, dass ich Recht habe! Was hätt’ ich tun sollen, wenn meine wichtigste Stütze mit einem Schwert im Herzen verröchelt?“

Sein König war zu keinem so herrisch wie zu dem, dessen Hingabe er nie verlieren könnte. Zum ersten Mal bei diesem Streit wich Hagen seinem Blick aus. „Ja gut“, sagte er langsam. „Ich ging möglicherweise unbedacht vor. Doch in der Schlacht hab ich schon oft gegen Unbekannte gefochten.“

„Stell dich nicht begriffsstutzig! In der Schlacht ist’s gut so – für ein Gefecht gegen Taugenichtse ist mir jeder Krieger zu schade!“

Hagen seufzte. „Ich – seh es ein. Vielleicht hat mich der Stolz zu sehr angespornt. Beim nächsten Mal zügle ich mich früher.“

Er sah sich rasch um, ob jemand seine Zurechtweisung und seine Kapitulation beobachtet hatte. Es waren zum Glück nur zwei Wächter in der Nähe, die sich alle Mühe gaben, seine Verlegenheit mit rücksichtsvoller Nichtbeachtung zu lindern.

Anmerkungen:

„Sie würden die Schwäbin mit dem vielfältigen Flitterkram des Weiberdaseins rasch von ihren Einmischungsversuchen in die Leitung des Herzogtums abbringen“: Hier lasse ich nur eine misogyne Figur sprechen! Wahrscheinlich ist es Hagen nicht einmal bewusst, dass er frauenfeindlich denkt. Allerdings zeichnet er sich im Epos auch nicht gerade durch feministische Ansichten aus … Die Autorin selber denkt ganz anders als Hagen. Wisst ihr, wen ich dagegen als unerwarteten mittelalterlichen „Feministen“ einordnen würde? Bischof Burchard von Worms! (1000–1025). Später werde ich zu einem Blogartikel über ihn verlinken.

„Grimm und Schweigen“: „Grimm“ klingt natürlich weitaus getragener, ja legitimer als „Grantigkeit“. Aber Hagen ist in dieser Geschichte als unzuverlässiger Erzähler angelegt. Mit 15 hat noch niemand „Grimm“, da heißt das einfach „schlechte Laune“ …

„Um so wie der zu strahlen, müsste Hagen schon drei Stunden lang besoffen sein, aber auch nur an einem Tag, an dem er in einem Turnier gewonnen hatte.“: Dieser Satz ist unbeholfen formuliert. (Jaja, ich weiß, alle anderen sind das auch, aber bei diesem steckte sogar Absicht dahinter! So!) Er soll zeigen, dass Hagen nicht mehr der Nüchternste ist. Da ich selber keinen Alkohol trinke und keine Feste besuche, kann ich diesen Zustand nur annähernd wiedergeben.

„Unmännliche Hingabe an ein Weib“: Im Erec-Epos wird dem Helden der Vorwurf gemacht, dass er sich zu sehr um seine Frau kümmere. (Der Vorwurf ist sogar noch konkreter als hier, wo Dankwart einfach allgemein von ihr hingerissen ist, also auch von ihrem Wesen und ihrem Charakter. Erec verspottet man, sich mit Enite „verlegen“ zu haben, also sozusagen einen überlangen „Honeymoon“ zu leben.)

„Für ihn und Hagen hieß das, den Mittelpunkt der allgemeinen Beachtung für eine hart verdiente Stunde oder zwei verlassen zu können“: Bei mir sind die beiden Hauptfiguren als introvertiert konzipiert. Wer war noch introvertiert und muss vielmals als Inspiration herhalten? Natürlich Bismarck! Obwohl im Hause Bismarck oft viel Trubel herrschte, Gäste ein-und ausgingen, im Garten Kinder und Hunde spielten, während irgendwelche Familienmitglieder mit Pistolen herumballerten usw., zog sich Bismarck doch manchmal für eine Stunde nach oben zurück, um in aller Ruhe Zeitung zu lesen. Er machte auch gerne lange Ausritte oder Spaziergänge. In den letzten Jahren seiner Kanzlerzeit hielt er sich fern der quirligen Hauptstadt (und des energiegeladenen Wilhelms II.) monatelang auf seinen Gütern auf.

Seid ihr auch introvertiert? Ihr seid wie Bismarck!

Die Sache mit den mittelalterlichen Handschriften basiert auf dem Buch „Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle Innovation“ der Reihe „Materiale Textkulturen“, herausgegeben von Professor Stefan Weinfurter. Ich habe das Buch als eBook gekauft, da kostet es 0 Euro. (Wie war das nochmal mit den sparsamen Schwaben?)

Dem Buch habe ich verschiedene Infos entnommen: Abschrift und Gegenprüfung einer Handschrift erfolgte in verschiedenen Klöstern; nach erfolgter Prüfung brachte der Prüfer oft einen Vermerk an. Manchmal hinterließ auch der Abschreiber seinen Namen, bisweilen mit einer Bitte um ein Gebet oder mit einem Stoßseufzer, wie mühevoll die Arbeit gewesen war. Dass die Rezipienten den Text mit Randbemerkungen versahen, ist ebenfalls historisch verbürgt. (Wobei es mich beim Schreiben sehr viel Überwindung kostete, Gunther und Bischof Gerd zu solchen Barbaren zu machen, die in Bücher kritzeln.) Die lateinischen Phrasen sind Zitate aus dem Buch. Gründliche Quellenarbeit, wie sie hier bei einem Exegeten angedeutet wird, war schon zu karolingischer Zeit bekannt.

„die Speise des Wissens sei dem schönen Geschlecht nur in kleinen Dosen bekömmlich“: Wissensaneignung wurde schon in einem karolingischen Text mit Nahrungsaufnahme verglichen.

Dass sich Kriemhild als junge Dame ein Buch über einen Krieg kommen ließ, halten alte weiße Männer bestimmt für modernen Firlefanz, an den Haaren herbeigezogen, „woke“ – sofern sie das Wort kennen. Dabei gibt es genug Frauen, die sich auch für angebliche „Männerthemen“ interessieren. Ich kenne zum Beispiel drei Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester, von denen einer genau 0 Bücher zu Kriegen hat, einer genau eines (ein Geschenk seiner Schwester), während die Schwester ihre Bücher über Krieg noch zählen muss und dann die Anzahl hier (          ) eintragen wird.

„Sind auch Väter dabei?“ Gemeint sind die Kirchenväter. Hier wird Ambrosius von Mailand erwähnt. Er verweigerte dem Kaiser Theodosius den Zutritt zur Kirche, bis er Buße für ein Massaker ablegte. Gunthers Lieblingskirchenvater ist aber Augustinus von Hippo.

Reichenau: Insel im Bodensee mit wichtigem Kloster. Insel und Kloster kann man besichtigen. Die Insel ist heutzutage auch als „Gemüseinsel“ bekannt, und so sieht es dort auch aus.

Dass Hagen überlegt, ob er bei so viel Politik, Umritt und Schwertkampf noch Zeit für Bücher finden könnte, ist wieder einmal inspiriert von Bismarck. Er erzählte einmal, es verhalte sich mit der Politik wie mit dem größten Karpfen im Teich, der alle anderen auffrisst, bis er alleine übrigbleibt: So habe bei ihm die Politik alle anderen Leidenschaften aufgefressen.

Ein Haudrauf fordert einen Burgunden zum Zweikampf: Das ist ja nichts Neues, im Epos macht es Siegfried genauso, indem er Gunther, den rechtmäßigen König von Burgund, zum Zweikampf um das Königreich Burgund fordert. (Dieser Auftritt zeugt nicht gerade von überragendem politischen Feingefühl.) Dieser Bayer wird in späteren Kapiteln wieder zurückkehren und Hagen einige Probleme machen.

Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 4

Dieses Kapitel braucht noch einen Titel!

Das Kapitel hat 4000 Wörter. Unten stehen wieder Anmerkungen.
Mit diesem Kapitel nimmt der Schwaben-Handlungsstrang sein Ende.

Zwei Tage später ritten sie in die Ebene hinab, um die Herzogin und ihr Gefolge zu begrüßen. Hagen hielt Gunther den Steigbügel, wie es ihm als ranghöchstem Fürsten oblag. Der Herzogin gewährte der Bischof von Konstanz dieselbe Ehre.

Gemessen gingen König und Herzogin aufeinander zu – vier und sechs Schritte, ach, der Alzeyer konnte argumentieren, soviel er wollte: Hagen trüge es ihm immer nach. An der Hand hielt die Herzogin ihren Sohn. War man mit sieben so klein? Hagen hatte noch nie einen Gedanken dran verschwendet.

Er folgte seinem Herrn in kurzem Abstand, so wie der Bischof von Konstanz auf der Seite der Herzogin. Gunther umarmte die Herzogin herzlich, küsste sie und sprach ihr mit warmen Worten sein Beileid aus. Das Zurschaustellen von weicher Liebenswürdigkeit und allgemeiner Güte beherrschte er bestens – es lag ihm im Charakter – und darum konnte Hagen sich erleichert zurücknehmen mit dem Säuseln süßer Floskeln.

Die Herzogin war gerade noch jung zu nennen, vielleicht fünfundzwanzig – er konnte Frauen nicht einschätzen. Als sie voreinanderstanden, riss die Herzogin die Augen auf und sagte: „Oh.“ Ihr Blick wich nicht von Gunther. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen, als sie hinzufügte: „Das seid Ihr also, Herr von Burgund.“

Im wohlberechneten Ränkespiel hatte Hagen bei allem Nachdenken doch diesen einen Vorteil übersehen. Glückliche Fügung, dass sein Herr mit einem sehr vorteilhaften Äußeren begnadet war und die Frauenwelt damit berückte.

Der Bischof von Konstanz, der Begleiter der Herzogin, betrachtete Hagen mit zusammengekniffenen Augen und deutlichem Missfallen. Nur zu! Er würde die Zweifler schon umstimmen.

„Mein treuester Berater, Bischof Gebhard von Konstanz“, sagte die Herzogin, nachdem sie sich aus ihrer Berückung befreit hatte.

Mein treuester Berater, Herzog Hagen von Tronje.“

„Ihr seid wahrhaftig so jung“, sagte der Bischof. „Und ich hatte gehofft, es sei nur Übertreibung, derer sich unser Jahrhundert oft genug schuldig macht.“

„Die Wehklagen, die jugendliches Alter erweckt, sind auch uns bekannt“, erwiderte Hagen. „Umso größer unser Verständnis für die Lage Eures jungen Herrschers.“

„Ganz genau“, rief Gunther, „und umso mehr freut es mich, meinen Nachbarn nun kennenzulernen!“ Er ging tatsächlich in die Hocke und reichte dem Knaben beide Hände. Das war freilich zu viel der Ehre, he! Trotz allem war der Herzog nur ein unbedarftes Kind.

„Seht ihn, den armen, vaterlosen“, sprach die Herzogin weinerlich. „Er muss Flüchtling sein im eigenen Land, wird gejagt wie ein schlanker Hirsch von jenen, die ihn beschützen sollten! Kann’s ein traurigeres Schicksal geben?“

Oh, Hagen hatte sie gleich durchschaut: Die Herzogin zelebrierte ihre Schwäche, kleidete sich ins Weiß der unschuldig Geschlagenen und trachtete danach, sich ins Herz der Gutmütigen zu bohren. Wäre sie ein Weib, das jammerte, wie’s Weiber eben taten, da ihnen die Kraft zu Taten fehlte – dann könnte Hagen es ihr nachsehen, denn die Schwäche ihres Geschlechts war der Freispruch für ein bisschen Selbstmitleid, und mit gutem Zureden war eine Frau für gewöhnlich rasch gewonnen für die vernünftige Männeransicht; die Herzogin aber war sich ihrer Wirkung wohl bewusst, und das missfiel ihm. Sie wollte ihre Schwäche einsetzen, um Männer damit zu täuschen und zu leiten. Wohlan, sein König und er würden die Listige überlisten. Bei den Verhandlungen mit der Frau würde Hagen im Schatten bleiben und seinen Herrn das Wort führen lassen. Die Herzogin würde Gunthers angeborene Sanftmut natürlich für das Ergebnis ihrer Überzeugungskünste nehmen und seinem Angebot stürmisch zustimmen, im Glauben, sie halte das Heft in der Hand.

Gunther hockte noch immer bei dem Jungen, schaute jedoch fragend zur Herzogin auf. „Erlaubt Ihr, dass ich Eurem Sohn ein Geschenk überreiche? Schließlich bin ich Gast in seinem Land.“

Die Herzogin lehnte mit blumigen Worten zum Schein ab, und gab erst nach behutsamem Drängen nach. Der kleine Herzog hatte dagegen gleich von Anfang an nach seinem Geschenk verlangt.

Gunther schnallte einen Dolch von seinem Gürtel ab. Frau Ute hatte ihn in Worms überreden wollen, dem Jungen einen nicht geschärften zu geben. Gunther hatte sich widersetzt, denn allzu zahnlos wollte auch er nicht scheinen. Das Heft war aus Elfenbein gefertigt, abwechselnd mit Saphiren und Smaragden besetzt, und, was in Kriegeraugen nur Firlefanz war, aber einer Frau als Gipfel der Schönheit gelten musste: Die Klinge war vergoldet. Entsprechend begeistert war sie da, und der junge Herzog fuchtelte gleich eifrig herum. Gunther erhob sich geschwind, ehe ihn noch ein ungelenker Streich ins Gesicht träfe. „Mein Herzog könnte ihm ein paar Lehrstunden geben. Er hat, wie Ihr sicher wisst, den Hunnenkönig im Zweikampf besiegt.“

Hagen gab sich erfreut. „Es wäre mir eine Ehre. – Wer, wenn ich fragen darf, lehrt Euren Sohn, die Lasten der Herrschaft zu tragen?“ Er hob beschwichtigend die Hand. „Abgesehen von Euch, edle Frau, die an der Seite eines großen Herrschers reiche Erfahrung gewann, und Euch, geschätzter Bischof, der die Tugend hütet. Wer bereitet den Knaben vor auf Krieg und Anfechtungen?“

„Ihr redet daher wie meine Fürsten“, sagte die Herzogin beleidigt.

Gunther schüttelte den Kopf mit nachsichtiger Besorgnis. „Dem ist nicht so. Wir hoffen nur, dass Euer Sohn vorbereitet wird auf die Stürme, die seiner harren.“

„Denn jeder Herrscher, und sei er auch so sanftmütig wie der meine, wird eines Tages – ja, oftmals allzu bald! – gezwungen sein, das Schwert zu zieh’n zur Verteidigung seiner angestammten Güter. Mein König musste schon gegen seine eigenen Leute kämpfen, und dabei gibt es keinen andern, der inniger den Segen jahrzehntelangen Friedens herbeisehnt.“

„Die Last der Herrschaft wiegt zehntausendmal tausend Seelen, und ich wär oftmals gestrauchelt, hätt’ ich nicht einen Beschützer, eine treue Stütze, der mich in allen Kämpfen beschirmt, sei es vor den Hieben tödlicher Schwerter in der Schlacht, sei es vor den Giftpfeilen verlogener Zungen in fürstlicher Runde, sei es vor den verborgen schwelenden Folgen falscher Entscheidungen.“

„Das tu ich gerne, Herr.“

„Wer, frag ich, wird dem Herzog Schwabens Beschützer sein, so wie mir Herzog Hagen der Beschützer ist? Denn einen Helfer in Not und Gefahr hat Euer teurer Sohn zuhöchst verdient.“

Vortrefflich, wie sein Herr das machte! Echt und ehrlich schien die Besorgnis, aufrichtig die Zuneigung zum Schwabenspross.

Die Herzogin erwiderte Gunthers Blick; hatte sie je noch Vorbehalte gehegt, so schmolzen sie nun wohl dahin.

Hagen lehnte sich leicht vor. „Mein König, ich stimme Euch zu in allem, doch wollen wir die Herzogin jetzt ins Lager geleiten, damit sie sich erhole von den Anstrengungen der Reise, ehe wir über die Verwicklungen, die sie herführten, zu sprechen kommen?“

Die Herzogin sollte warten und sich gedulden müssen. Das Hoffen auf den König von Burgund würde ihr taktvoll zeigen, wer Bittsteller und wer Wohltäter war.

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Während Gunther mit lobenswerter Gleichmut die Herzogin in seinem Zelt bewirtete und ihr allerhand Geschenke überreichte (Edelsteine, Stoffe und viele weitere Zeugnisse burgundischer Großzügigkeit), bewies Hagen vor den Männern ihres Gefolges ebenfalls burgundische Höflichkeit, wechselte mit jedem ein paar Worte und forschte vorsichtig nach, wie sie zu seinem König standen. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, dass Gunther sich die Anerkennung der meisten gewonnen hatte; die einen waren beeindruckt, dass er aus Rücksicht auf den Todesfall ein fröhliches Fest beendet hatte, die anderen gaben mit verhüllten Worten zu verstehen, dass ein König, der vom eigenen Tross lebte in einem fremden Land, ein Muster an Anstand war.

Einige Grafen und Ritter hatten sie auf ihrer Reise bereits früher getroffen. Graf Heinrich, dessen Tochter Gunther so umsichtig mit Arznei versehen hatte, hörte gar nicht mehr auf, Hagens Hand zu schütteln, und bat ihn ein ums andre Mal, dem König seinen schönsten Dank zu übermitteln. – Bestens, bestens war es bisher gelungen.

Am späten Nachmittag ritten Gunther und seine Fürsten erneut hinunter zum Donauufer: Die zweite Partei, die streitbaren Fürsten, trafen ein. Ihr Heer lagerte ein paar Meilen entfernt, zum Kampf bereit, sollte der Vermittlungsversuch nicht das gewünschte Ergebnis zeitigen.

Dieses Mal ging Gunther den anderen nicht entgegen, sondern wartete stolz, bis sie heran waren. Er neigte sich nicht so tief wie bei der Herzogin, und auch Hagen wahrte genau das Ausmaß der nötigen Ehrbezeigungen. Als Herzog war er allen hier im Rang überlegen.

Mit wohlbedachten Worten dankte Gunther den Männern für ihr Kommen, für ihre Bereitschaft zur unblutigen Beilegung des Zwists, und für die gütige Aufnahme, die ihm in allen Burgen auf dem Weg zuteilgeworden war. Die Fürsten erwiderten den Dank mit pflichtbewusster Bescheidenheit. Die zehn höchsten unter ihnen folgten ihm alsdann in sein Zelt. Ein langer Tisch war dort aufgebaut, und bester Wormser Wein bereitgestellt.

Man setzte sich. Als Vertreter Burgunds waren außer Gunther und Hagen nur noch Markgraf Eckewart und Markgraf Ortwin zugegen; auf Fürbitte eines zurecht vergrämten Fürsten hatte Gunther den Alzeyer kurzfristig ausgeschlossen.

„Ihr lieben Männer“, sagte Gunther, nachdem auf das Wohl des jungen Herzogs getrunken worden war, „nun nennt mir freiheraus Eure Sorgen; ich verspreche, dass nichts, was sie nicht hören soll, der Herzogin zu Ohren kommen wird.“ Sein langsames Zurücklehnen müsste jeder andere für die Bereitschaft aufmerksamen Zuhörens halten; Hagen wusste, dass es vielmehr Erleichterung war, den weiteren Fortgang der Ereignisse seinem treuesten Mann überlassen zu dürfen.

„Die Herzogin verweichlicht den Jungen!“, rief der Graf von Reutlingen.

„Sie verweigert sich unserem Rat und ist nicht bereit, den Herzog einem Mann zur weiteren Erziehung zu übergeben!“, sagte der Graf von Friedberg.

„Ich sprach zu ihr vor zwei Monaten, und erinnerte sie an die Notwendigkeit, einen Knaben mit dem Kriegshandwerk vertraut zu machen“, sagte nachdenklich der Graf von Zollern, „da hob sie keck die Hand und gab zurück: ‚Mein Sohn wird nie in eine Schlacht reiten, denn er wird weise jede Herausforderung mit seinem Verstand zu lösen wissen!‘ – Diese Frau ist doch kein Umgang für einen jungen Herrscher, auch wenn sie seine Mutter ist!“

So ging es fort, bis ein jeder seine Beschwerden aufgezählt hatte. Als auch der letzte zum Ende gekommen war, nahm Gunther die Hände zusammen und nickte bedächtig.

„Herr, erlaubt Ihr, dass ich das Wort ergreife?“, fragte Hagen ehrfürchtig, damit alle sahen, dass selbst der Bezwinger Etzels seinem Herrn hingebungsvolle Untertanentreue schuldig war.

„Jederzeit, Herzog.“

Hagen erhob sich schwungvoll. „Ich halte Schwabens Nöte für sehr bedrohlich“, sagte er scharf. „Es geht nicht an, dass ein ganzes Reich dem Willen einer Frau ausgeliefert ist. Widersetzt sich die Herzogswitwe der Führung durch Klügere, versündigt sie sich an ihren Fürsten und an ihrem Sohn, dem sie das Privileg, zu einem echten Mann heranzuwachsen, vorenthält. – Ihre Anhänger und Apologeten freilich preisen ihre Mutterliebe, die alle durchtriebenen Pläne mit dem Goldglanz ‚bester Absichten‘ überzieht – doch ist eine Mutter, die ihr Kind vor der Welt abschirmt und in seinem Namen ein Reich zu beherrschen gedenkt, noch eine Mutter? Ist Ihr Sohn noch Sohn? Ist er nicht vielmehr Geisel?“

Hier unterbrachen ihn frenetische Zwischenrufe der Fürsten.

„Was wäre nötiger, als den Herzog dem Zugriff der Witwe zu entziehen?“, fuhr er fort. „Euer Heer ist bereit, seine Waffen sind scharf – allein Schwabens Nachbarn sind nicht alle freundlich gesinnt wie das Reich meines Herrn. Ein Bürgerkrieg, und wäret Ihr auch noch so siegreich, brächte Schwaben eine Wunde bei, an der es schließlich zugrunde gehen könnte. Die fruchtreichen Gefilde dieses Landes mit seinen tüchtigen Bauern erwecken manche Begehrlichkeit. Schwaben, zerrissen wie es jetzt ist, oder geschwächt, wie es nach dem Krieg sein wird, liegt zwischen den Schwertern der Franzosen und den Äxten der Bayern.“

„Doch Burgund wird uns beistehen?“, rief man aufgeregt

Hagen warf Gunther einen bedeutungsvollen Blick zu. Der neigte sich bescheiden im Angesicht des schwäbischen Vertrauens. „Burgund will nicht mitansehen, wie sein meistgeschätzter Nachbar zur Beute fremder Bestrebungen wird – noch wie sein Nachbar sich in innerlichen Kämpfen zerfleischt.“

„Der junge Herzog braucht, dessen sind wir uns alle einig, die Führung bewährter Männer“, sagte Hagen. „Was Schwaben nicht braucht, ist ein Bürgerkrieg. Nun verläuft der Zwiespalt mitten durch Euer Land; die Hälfte des Adels vereinigt die Herzogin auf sich, die andere Hälfte steht zu Euch. Wir sind uns darin einig, dass das vorrangige Ziel aller aufrechten Männer sein sollte, die Weiberherrschaft zu beenden und den Knaben in die Obhut von Fürsten zu geben, die ihn zum weisen Herrscher und furchtlosen Krieger heranbilden, damit er in acht Jahren Euer Land lenke mit segenbringender Hand. Nun könnte man ihn – wenn ich es wagen darf, einen Vorschlag zu machen – von beiden Parteien abwechselnd erziehen lassen, ein halbes Jahr bei den Leuten der Witwe, ein halbes Jahr bei Euch.“

Schon wollte sich Widerstand regen, da hob er die Hand. „Man könnte ihn jedoch auch in die Obhut einer dritten Partei geben, der es ein inniges Anliegen ist, Schwabens Handlungsfähigkeit und Macht auf Jahrzehnte hin zu sichern. So wie Schwaben einen fähigen, nicht verweichlichten Herzog braucht, der es führen kann in Frieden und Krieg, strebt Burgund danach, Schwaben stark und einig zu halten, sodass es sicher sein kann, dass von Süden nicht Gefahr heraufzieht.“

Gunther erhob sich. „Es ist ein Wunsch, der mir aus Herzenstiefen kommt“, sprach er sanft. „Wie der Patenonkel das Kind zu sich nimmt, wenn es die Eltern in Gefahr sehen, so will ich Eurem Herrn eine Heimstatt bieten. Es soll ihm an nichts mangeln; die besten Lehrmeister geb ich ihm: Bischöfe werden ihn unterweisen im Glauben, von den Fürsten lerne er zu wirtschaften, von mir den Umgang mit fremden Boten, vom Sieger über den Hunnenkönig das Kämpfen. Wann immer Ihr Euch vom Fortschritt seiner Lehren überzeugen wollt, seid Ihr mir auf das herzlichste willkommen, und wünscht Ihr, dass er tiefer eingeführt werde in die Besonderheiten Eures Landes, dann nehme ich gerne die von Euch bestimmten Lehrer bei mir auf. Es wär mir eine Ehre, Eurem Herzog Gastgeber zu sein.“

Oh, hervorragend machte er das! Mit größter Selbstlosigkeit bot er ihnen das Füllhorn seiner Güte an – nun war’s an ihnen, es anzunehmen.

Die Schwaben zögerten noch.

„Und was schlagt ihr vor, wie wir mit dem Weib verfahren sollen?“, fragte der Graf von Zollern. Sein Blick galt dabei nicht dem König, sondern Hagen. Unerhört, dass man seinen König überging! Deshalb richtete er die Antwort mehr an Gunther als an die Schwaben. „Würde die Herzogswitwe aufhören, Aufruhr zu verursachen, bis sie ihren Sohn wiederhat? Das bezweifle ich sehr. Für sie gilt wie für jedes Weib: Um ihren Ehrgeiz zu bändigen, muss man sie glauben lassen, gewonnen zu haben. Mein Herr ist bereit, sie in Worms aufzunehmen, wo der Pracht und Prunk einer glänzenden Metropolis sie bald von allen machtgierigen Plänen ablenken werden.“

Gunther nahm demütig die Hände vor der Brust zusammen und ließ den Blick über die versammelten Fürsten schweifen. „Das ist mein Vorschlag, liebe Schwaben, und sprecht Ihr Euer Ja, so strebt fortan ganz Burgund danach, Eurem Herzog die treueste Stütze zu sein.“

Wie Hagen es geplant hatte, nahmen die Schwaben das Füllhorn von Gunthers Güte eifrig an.

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Am Abend besuchten sie die Herzogin in ihrem Zelt. Hier saß sie zwischen den kostbaren Geschenken, den unbedarften Sohn spielend zu ihren Füßen, und ließ sich von einer Zofe kämmen. „Ach, wie ehrt es mich, dass Ihr mich aufsucht!“, rief sie entzückt, „aber vergebt mir, dass ich in diesem unwürdigen Zustand vor Euch sitze – hätt’ ich von Eurem Kommen gewusst, hätte ich mich herausgeputzt für Euch.“

Gunther versicherte ihr gnädig, dass sie an ihrem offenhaarigen Zustand keinen Anstoß nahmen.

Die Herzogin bot ihnen einen Stuhl an; Hagen zog es freilich vor, finster hinter seinem Herrn stehenzubleiben. Die Herzogin verwickelte Gunther zunächst in einen Monolog über ihr bedauernswertes Los als Witwe und Mutter, bis selbst Gunthers Geduld zur Neige ging.

„Ich bewundere die Duldsamkeit, mit der Ihr Euer Los bisher getragen habt. Darum ist es mir eine umso schönere Freude, Euch einen Vorschlag zu unterbreiten, der Euer Leiden, wie ich hoffe, mit dem Kranz der Belohnung schmücken darf.“

Die Herzogin blinzelte überrascht. „Eure Güte ist weit wie der Ozean/Bodensee, lieber König.“

„Hört mich erst an, ehe Ihr urteilt. Ich hoffe sehr, dass mein Vorschlag Euer Wohlgefallen findet.“ Also wirklich, so sehr brauchte er nicht zu schmeicheln!

Gunther legte ihr draufhin alle Vorteile eines Aufenthalts am Wormser Hof dar. Als die Herzogin wichtigtuerisch erwiderte, sie brauche noch Bedenkzeit – oh, Hagen sah genau, dass sie schon gewonnen war, und nur seinen König warten lassen wollte – beugte sich Gunther kurzerhand zum Herzogsknaben hinab und fragte ihn im unschuldigsten Tonfall, ob er einmal Worms sehen wolle. Ha, da stutzte die Herzogin! Der kleine Junge gab sich ganz begeistert; drum bedachte Gunther die Herzogin mit einem Blick, als könne er auch nichts mehr dagegen unternehmen, der Wille des Knaben sei bindend.

„Nun gut, Ihr habt ja recht“, sagte die Herzogin – ein strahlendes Lächeln begleitete ihre Worte – „in Worms wird er beschützt sein vor allen, die ihm Böses wollen, und ich bin endlich gerettet vor den Anfechtungen meiner Feinde. Ihr seid ein edler Mann, König Gunther.“

Und so kam es, dass der Erbe des Schwabenlandes an den Hof nach Worms kam, wo er zu einem Freund und Bündnispartner Burgunds erzogen würde – und die Herzogin von Schwaben wie auch ihre feindlichen Fürsten glaubten jeweils, sie hätten gewonnen und die Widersacher überlistet.

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Am nächsten Tag versammelten sich die Burgunden und die Schwaben beider Parteien auf freiem Feld. Mit hallender Stimme, hörbar auch für die niedrigsten Ritter in hinterster Reihe, trug ein Herold das Angebot des Königs vor. Die Männer der Herzogin wie auch ihre Feinde bezeugten ihre Zustimmung mit lauter Akklamation. Mit Umarmen und Küssen wurde die Versöhnung gefestigt vor aller Augen, und die Freude der Schwaben erreichte einen ungeahnten Höhepunkt, als Gunther einen feurigen Apfelschimmel heranführen ließ, mit Sattel und Zaumzeug aus rotglänzendem Leder, und ihn als Unterpfand seiner Freundschaft dem jungen Herzog übergab. Wohlberechnet war die Geste: Um ein solches Tier zu reiten, musste man die Verwegenheit eines Mannes besitzen. Die Fürsten konnten beruhigt sein – ihr junger Herr würde in Burgund recht geformt werden.

In Gunthers Zelt wurde die Urkunde verlesen, dem Anlass gemäß nicht von einem bloßen Herold, sondern von Burgunds erstem Vasallen. Die Vormundschaft über den jungen Herzog erhielten der König von Burgund, seine Mutter und die schwäbischen Großen. Was gesamtschwäbische Angelegenheiten betraf, sollte von allen Parteien gemeinsam entschieden werden. Gunther befahl, die Urkunde reihum gehen zu lassen, damit jeder sich vergewissern könne, dass alles wie vorgetragen festgehalten war. Mancher Fürst las die Zeilen wachsam durch, ehe er das Pergament zufrieden weiterreichte; mancher andere heuchelte Alphabetismus, ließ den Blick mit überdosierter Hingabe kreuz und quer über das Schriftstück wischen, ehe er es, für gut befunden, mit Kennermiene an den nächsten weitergab.

„So wollen wir unterzeichnen“, sprach Gunther. Ein Knappe tauchte den Schwanenkiel in die Eisengallustinte; sein Herr unterzeichnete mit dem Schwung der wohlgeübten Hand.

Die Herzogswitwe war die nächste, drauf der Bischof von Konstanz und die anderen Geistlichen, alsdann Hagen, danach setzten immer im Wechsel Burgunden und Schwaben Unterschrift oder Handzeichen darunter. Es entging Hagen nicht, dass eine beträchtliche Anzahl Schwaben beider Parteien mit verstohlenem Lächeln vom Tisch zurücktrat, wie der durchtriebene Geschäftsmann, der seinen Kunden hochvergnügt von dannen ziehen sieht: übertölpelt, doch überzeugt, er habe das beste Angebot erhascht.

Zuletzt zog Gunther den wuchtigen Siegelring vom Zeigefinger und presste sein Wappen ins flüssige Wachs.

Es war alles so ergangen, wie Hagen es ersonnen hatte. Ehre und Macht für Gunther und Burgund!

Als das Siegel trocken war, hielt Gunther die Urkunde dem Bischof von Konstanz hin: „Bitte, lieber Vater, bekräftigt diese weltlichen Bande mit dem Kitt eures Segens.“

Der Bischof sprach ein paar würdige Worte, während die Fürsten zuhörten mit gesenktem Haupt.

Beim anschließenden Festmahl – auf Kosten des Königs von Burgund natürlich – mischten sich die Schwaben mit den Rheinischen, und als die Speisen verzehrt waren, stand man noch in losen Scharen scherzend und lachend beisammen. Hagen ging lautlos von der einen Gruppe zur anderen, hörte aufmerksam zu und erforschte behutsam die Stimmung.

„Ein Glück, dass unser Bub nun doch noch in den Genuss einer richtigen Erziehung gelangt“, sagte ein Schwabenritter mit unverhohlenem Siegerstolz. „Ich sag’s Euch, die Herzogin haben wir überlistet!“

„Sie wird heulen, wenn der Junge zum ersten Mal ins Turnier reitet! Sie hat ein Mäuschen aus ihm machen wollen, und nun wird er zum Helden!“

Ich sag’s Euch – in acht Jahren wird uns die Herzogin alle verfluchen!“

Ein Graf bemerkte Hagen und hob den Weinkelch zum Gruß. Die andern wandten sich um, überboten sich mit Lobesworten für seinen Herrn, dessen Reich und ihn selber. Er nahm es mit Dank entgegen, und fügte hinzu, dass er schon voller Vorfreude der ersten Fechtlehrstunde mit dem jungen Herzog entgegensehe. Dann schritt er weiter, immer wachsam.

Markgraf Eckewart unterhielt sich mit einer Handvoll Anhängern der Witwe.

„Seid unbesorgt, die Unterweisung in Geistesdingen wird nicht zu kurz kommen. Ihr braucht nur den König anzusehn: Er ist der Schild des Friedens und die Zuflucht der Verfolgten; die kalte Stimme der Schwerter lässt er nur sprechen, wenn seine Gegner den Segen von Rat und Weisheit mit Flüchen entgelten.“

„Gepriesen sei Euer Herr, dass er unseren Herrscher aus den Klauen der Eiferer entrissen hat.“

Der Bischof von Konstanz sprach heftig: „Keiner von ihnen dachte ans Wohl des Landes; sie wollten nur das Kind an sich raffen, um in seinem Namen uns das Joch ihres Willens aufzuzwingen.“

„Gründlich misslang der schmähliche Plan!“, rief ein Ritter und hob stolz den Kelch.

Gerade wollte Hagen zu ihnen treten, als einer der schwäbischen Grafen dem braven Eckewart bedeutete, sich herabzubeugen, und raunte – Hagen konnte es nur mit Mühe verstehen – „Ist es wahr, dass der neue Tronjeherzog für Euren König gar noch unverzichtbarer ist, als es der alte für König Gibich war?“

Eckewart nahm sich einen Augenblick Bedenkzeit. „König Gunther gönnt jedem seiner Männer Gehör, doch schließt sich stets dem klügsten Rat an. Ihr seht, dass Burgunds einstige Geisel jede Kiste Tribut wert war.“

Wie ehrenwert von Eckewart! Hagen würde sich nachher dafür bedanken. Der Speyerer war ein Mann, der vorrangig an den König dachte, nicht an eigene Befindlichkeiten wie die Neider und Zwietrachtsäer.

Unbemerkt entfernte er sich wieder. Die Macht seines Königs war ohne einen Streich um ein Drittel gewachsen, das Nachbarland war befriedet, und Schwabens Herzog würden sie so geschickt zu erziehen wissen, dass er noch jahrzehntelang zu Gunther aufsehen würde wie der Vasall zu seinem Herrn. – So ähnlich musste sich ein Meister fühlen, ein Bildhauer oder Schwertschmied, im Angesicht des vollendeten Werks.

Am nächsten Morgen, als bis auf die Amseln noch kein Vogel wach war und die Donau noch unter weißen Schleiern träumte, nahmen die Schwabenfürsten ihren Abschied vom jungen Herzog. Es neigte sich jeder vor ihm, und keine geringe Zahl flocht in die Segenswünsche des Auseinandergehens noch die Mahnung ein, sich in der Fremde gut zu betragen und die Weisungen seiner Gastgeber fleißig zu befolgen. Gunther geleitete die Fürsten bis ins Tal hinab. Nachdem die Schwaben aufgebrochen waren, verharrte er eine Weile und blickte ergriffen ins Land hinaus. Hagen ließ Totenwache näher treten.

„Ihr habt Eurem Namen reichen Ruhm gewonnen, König von Burgund – und Schutzherr von Schwaben.“ Kein Becher Wein hatte ihn je so berauscht wie der Ambrosiageschmack des Erfolgs.

Gunther blickte auf den Pferdehals, selbst im Sieg noch unsicher, ob er den Lorbeer wirklich annehmen durfte. Dann bedachte er Hagen mit einem weichherzigen Lächeln. „Wir wissen beide, wessen Beitrag der weit größere war, und wem ich Dank schulde. Freilich bin ich ratlos, wie ich mich dafür erkenntlich zeigen soll, lieber Herzog. Ich kann Euch weder ein Lehen noch meine Treue versprechen, denn beides gehört Euch schon. So müsst ihr Euch wohl damit abfinden, dass ich von den Schwaben eines bereits gründlich gelernt habe: die Sparsamkeit hochzuhalten.“ Seine Miene wurde wieder nachdenklich. „Der Machtzuwachs erfüllt mich mit Stolz, natürlich – aber weißt du, mehr noch freut es mich, einen Krieg verhindert zu haben. Dass Burgund als Friedensstifter in die Chroniken eingeht – unter meinem Vater wäre das nie geschehen. Danke, mein Freund. Ich glaube, dass Burgund einer glänzenden Zukunft entgegengeht.“

Anmerkungen:

Der ranghöchste Fürst hält dem Herrscher den Steigbügel: Ob auch Geistliche das Privileg/die Pflicht des Steigbügelhalterdienstes übernommen haben, weiß ich nicht. Sollte ich noch etwas dazu finden, werde ich es hier hoffentlich einarbeiten.

„darum konnte Hagen sich erleichert zurücknehmen mit dem Säuseln süßer Floskeln“: Dies soll nicht heißen, dass Hagen hier Gunthers Verhalten herabwürdigt als „Säuseln süßer Floskeln“, was seinem König gegenüber ziemlich unfreundlich wäre, sondern bezieht sich auf Hagens eigene Haltung gegenüber der Herzogin. Da er kein echtes Mitgefühl verspürt, wäre es bei ihm nur Heuchelei. Vielleicht fällt mir noch eine andere Formulierung ein.

„War man mit sieben so klein?“ und „Die Herzogin war gerade noch jung zu nennen, vielleicht fünfundzwanzig“: Dies soll nicht den langlebigen Irrglauben unterstützen, dass man „früher“, also in Zeiten mit geringerer Lebenserwartung, schon mit z. B. 30 als „alt“ galt – sondern soll illustrieren, wie jung die Figur des Hagen in dieser Geschichte ist. Dass 15-jährige Menschen noch nicht beurteilen können, wer wirklich alt ist, wissen alle, die nicht mehr 15 sind. Genauso können viele junge Leute, die mit Kindern nichts zu tun haben, auch kaum das Alter von Kindern richtig einordnen. Und als Funfact zum Schluss: Hildegard von Bingen schreibt in „Ursache und Entstehung der Krankheiten“, dass Frauen bis zum 50. Lebensjahre ihre Regel haben, manche sogar bis 70, und dass ab 70 dann die Runzeln und der Verfall kommen. Bei Männern sollen Runzeln und Verfall sogar erst ab 80 kommen.

„Das tu ich gerne, Herr.“ Im Epos ist „Daz tuon ich“ Hagens erstes Zitat.

„dass ein König, der vom eigenen Tross lebte in einem fremden Land, ein Muster an Anstand war“: Hier wird wirklich keine Gelegenheit ausgelassen, das Klischee der schwäbischen Sparsamkeit zu erwähnen.

Der junge Schwabe wird Gunther als Mündel übergeben: Dieser ganze Handlungsstrang wurde inspiriert von einer Begebenheit des Frühmittelalters: Damals herrschten die Welfen in Burgund (Rudolf I., Rudolf II., Konrad, Rudolf III.). In einer Phase der Wirren brachte Otto der Große den minderjährige Konrad in seine Obhut. Als König von Burgund war Konrad später ein verlässlicher Partner Ottos.

Die Anwesenheit von Zeugen bei der Ausstellung einer Urkunde war der Normalfall. Die Zeugen wurden nach Rang geordnet aufgeführt, Geistliche eventuell zuerst. Im deutschen Hochmittelalter konnten nicht viele weltliche Adlige lesen und schreiben. (In Frankreich waren ein höherer Anteil der Fürsten lesekundig.) Dass in dieser Szene der wichtigste Fürst (natürlich Hagen) die Urkunde verliest, ist jedoch nicht vom Mittelalter, sondern wieder einmal von Bismarck inspiriert. Er las die Kaiserproklamation vor (wenig salbungsvoll, da der Kaiser und er seit dem Vortag verstimmt waren).

Eisengallustinte: Für Eisengallustinte braucht man Galläpfel, das sind Äpfel von Bäumen, die von einem speziellen Schädling befallen sind. Auch heute noch kann man solche Tinten kaufen. Für mich wäre das allerdings nichts, ich mag keine trockenen Tinten, und Eisengallus ist enorm trocken. Diamine Oxford Blue ist die beste! (Not sponsored.) Neben der Eisengallustinte wurde im Mittelalter auch Dornentinte verwendet.

Der Prozess des Siegelns wurde nur erwähnt, weil ich einflechten wollte, dass man einen Siegelring am Zeigefinger oder am Daumen trug. Das steht in dem Ausstellungskataglog „Heinrich IV. Kaiser, Kämpfer, Gebannter“ des Rheinischen Museums Speyer, und hätte ich es dort nicht gelesen, wäre mir nie in den Sinn gekommen, zu recherchieren, an welchem Finger man einen Siegelring trug. So cool.

Es folgen noch ein paar Scherze über die Sparsamkeit der Schwaben, haha …

Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 3

Ihr seid nur alle Schachfiguren

Dieses Kapitel hat fast 5000 Wörter, also wieder ein langes. Es ist in mehrere Abschnitte gegliedert. Nach dem ersten Abschnitt findet ein Perspektivwechsel von Gunther auf Hagen statt.
Am Ende stehen wieder Anmerkungen.

Nach vier Tagen schon brachen sie auf. Ein Fünftel der burgundischen Ritterschaft zog mit ihnen ins Schwabenland. Das Heer war klein genug, um die Furcht fremder Fürsten vor burgundischer Übermacht zu zerstreuen, und groß genug, um bei einer Schlacht zwischen den Anhängern der Herzogin und ihren Widersachern Burgunds bevorzugter Partei den Sieg zu gewähren. Gernot und Onkel Godomar waren in Worms geblieben, um dort die Herrschaft auszuüben.

Den Boten hatte Gunther schon vorausgeschickt; auf diesen Eilritt konnte der Mann seine Gattin jedoch nicht mitnehmen. Sie durfte weiter am Rhein verweilen und sich des falschen Triumphs erfreuen, einen König in ihre Intrigennetze eingesponnen zu haben.

Meist ritt Gunther mit der Vorhut. Er trug Sorge, dass in jedem Dorf angehalten und den Bauern verkündet wurde, wer durch ihre Gefilde kam. Während der Herold mit geübter Stimme von Burgunds Freundschaft und Nachbartreue sprach, saß Gunther auf seinem ungeduldig scharrenden Fuchs und blickte in die Runde mit demütiger Verlegenheit, als wäre er fast schuldbewusst ob seiner Macht und Pracht. Seine Ritter umgaben ihn, kühn und nahbar, die Schützer von Armen, Witwen und Waisen; milde zu den Gutherzigen, unbarmherzig nur zu den Bösen. Den Frauen fiel es nicht schwer, sich an ihnen festzuschauen; sie sahen tagein, tagaus nur die braungebrannten, frühzeitig furchigen Gesichter ihrer bäuerlichen Männer, bückten sich den Rücken rund, um deren grobe Kleidung zu waschen, und konnten ihre Stimmen am Ende jedes Winters nicht mehr länger mitanhören. Darum war ihnen ein weißhäutiger Edelmann mit steinbesetztem Mantel und Bescheidenheit, die der Stärke entsprang, eine fesselnde Abwechslung. (Bis auf Hagen, dessen Stolz ihm gebot, mit dem lauernden Selbstbewusstsein eines Adlers auf die einfachen Leute herabzuspähen.)

Nachdem der Herold geendet hatte, wandte Gunther sich jedes Mal seinen Fürsten zu und sagte ruhig, doch wohlbelauscht: „Wie bieder und fleißig diese Leute sind! Fünf Dörfer wie dieses sind ein Diadem, eine Zierde für ihren Herrn.“ Und an die Dörfler gerichtet: „Zum Angedenken an den seligen Herzog Burchard, der mich und mein Reich stets väterlich im Herzen trug, will ich euch Bauern ein Geschenk geben. Ich muss euch nicht raten: ‚Nutzt es klug‘, denn Bedachtsamkeit ist aller Schwaben Erbtugend. Nehmt es, spendet eurem Herzog ein paar fromme Gebete, und bleibt weiter brave Untertanen seines Sohnes.“

Er ließ sich einen Beutel mit Münzen reichen, legte ihn dem ältesten Greis des Dorfs in die Hand, und gab das Zeichen zum Aufbruch. Damit gewann er sich stets das Wohlwollen selbst der grimmigsten Bewohner.

Im Abstand von ein, zwei Stunden folgte ihnen das Heer. Ein jeder musste genau auf den Wegen bleiben; keinen noch so winzigen Gerstentrieb sollten die Schwaben wegen burgundischer Hufe beklagen müssen.

Nach drei Tagen kehrten sie zum ersten Mal bei einem schwäbischen Adligen ein. Wie Gunther mit seinen Getreuen in den Hof ritt, stand der Graf schon bereit. Er begrüßte sie mit unverbindlicher Miene, hinter der jedoch jeder, der Menschen zu lesen wusste, den gequälten Unmut erkannte.

„Welch edle Gäste für mein bescheidenes Heim“, sprach der Graf, „hätt’ ich zuvor gewusst, dass ein König mir die Ehre seiner Anwesenheit gönnen wird, hätt’ ich Vorkehrungen getroffen, die Burg geschmückt, die Küche bestückt mit den vorzüglichsten Früchten des Landes – so aber steht mein Haus im schnöden Werktagskleid vor Euch, die Späne der Arbeit belästigen Euren Blick, und meine Speisekammer hält kaum Bess’res als jede Bauernkate bereit. Ein geiziger Wirt muss ich sein, der doch allzu gerne der Großzügigste wär!“

Gunther nickte verständnisvoll. „Das weiß ich zu schätzen. Allerdings ist es nicht meine Absicht, Eure Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen; wir wollen heute noch einige Meilen zurücklegen und hielten nur an, um Euch unsern Gruß zu entbieten, wie es sich für die Landfremden gebührt.“

Die Sonne der Erleichterung erstrahlte auf dem Gesicht des Grafen. „Das ist ja schade!“, entrang sich ihm wie ein Stoßseufzer; versöhnt fügte er hinzu: „Wenn das so ist, will ich Euch doch wenigstens zu einem Becher Bier einladen, denn schließlich kann ich einen König und sein Gefolge nicht ohne Labung wieder fortschicken wie einen Bettler.“

Gunther hob die Rechte nur ganz leicht, und Hagen neben ihm ließ die Empörung wieder verglimmen. Man braucht nicht jedes Wort eines Provinzgrafen auf die Goldwaage zu legen.

„Das Angebot nehm ich gerne an“, sprach Gunther, „unter der Bedingung, dass Euer Gesinde sich nicht zu viele Umstände mit uns mache. In einer halben Stunde wollen wir wieder aufbrechen.“

Das hörte der Schwabe gerne. Emsig trugen die Knechte zwei zusätzliche Tische in den Saal der Burg, und in staunenswert kurzer Zeit war schon jedem ein Becher Bier gereicht. Auch die Hausherrin und ihre Tochter waren herbeigerufen worden und saßen bei den Gästen.

Ein Rossknecht, der sich eilends ein neues Gewand übergezogen hatte, musste die Gesellschaft mit Musik erfreuen, denn von den Leuten des Grafen sei er der einzige mit einer annehmbaren Stimme, und – das sagte der Graf mit übertriebenem Bedauern – fahrendes Volk suche ihn ja allzu selten auf. Nun trällerte der Junge im Hintergrund die immer gleiche Strophe eines Lieds über schwäbische Straßen; er glich dabei einem eingesperrten Vogel, der um alles in der Welt entfliehen wollte.

Nach einer Weile erhob sich Volker von Alzey, näherte sich tänzerisch der Gräfin und ihrer Tochter und verbeugte sich vor ihnen. „Erlauben die Schöngeister der Burg, dass ich als Spielmann ihnen ein Lied widmen darf?“

Die Grafentochter beantwortete sein Blinzeln mit schüchternem Kichern; die Gräfin rief: „Ich bitte darum!“

Volker trat zum tapferen Rossknecht, wartete höflich, bis er seine Strophe beendet hatte, und raunte ihm dann den erlösenden Wunsch der Gräfin zu. Von seinem Knappen ließ er sich die Fiedel reichen, spielte die Weise einmal vor, und hub dann an zu singen von einer zarten Nachtigall und ihrem Feind, dem Raben.

Atemlos lauschten die Frauen. Der Graf blickte liebevoll zu Gattin und Tochter hinüber. „Wie bin ich froh, dass mein Mädchen noch unter uns Lebenden weilt“, raunte er Gunther zu. „Sie wäre letztes Jahr beinahe einer Lungenentzündung erlegen, das arme Kind!“ Seine barschen Züge wurden weicher.

„Ich nehme an, dass die Genesung langwierig und mühselig war?“, fragte Gunther.

„Gott sei mein Zeuge“, seufzte der Schwabe, „sie ist bis heute noch nicht ganz wiederhergestellt.“

„Mein Herr – und seine Mutter, die verehrte Königswitwe – sind wohlbewandert auf dem Feld der Heilkunde“, sagte Hagen. „Sie wissen bestimmt ein Mittel zur Abhilfe. Nicht wahr, mein König?“

„Da wär ich Euch von Herzen dankbar!“, sprach nun auch die Gräfin, die wie alle Frauen zwei Dingen zugleich lauschen konnte, „ja, ergeben wär ich euch mehr als unserm Herzog, dem alten wie dem Jungen!“

Dem armen Kind musste unbedingt geholfen werden! Gunther schickte sogleich seinen Knappen, dass er von einem der Packpferde die Schatulle mit den Arzneien hole. Mit dem Schlüssel – er trug ihn, seit sie losgezogen waren, stets bei sich; hatte er doch in seinem Leben schon oft genug erfahren, dass man ihm unbemerkt böse Substanzen untermischen wollte – öffnete er sie behutsam. Es waren zwei Dutzend tönerne Tiegel darin, mit Salben oder Pulver für alle Gebrechen, die einen auf der Reise befallen könnten: gegen Fieber und Kopfschmerzen, gegen Muskelschmerzen, Kraftlosigkeit, und vieles mehr. Manche hatte Mutter gemischt, manche hatte er selber in nächtlicher Stunde bedachtsam hergestellt. Er wählte drei aus, die helfen sollten, so viel es die Kraft der Pflanzen vermochte, und erklärte der Gräfin, wie sie einzunehmen seien und welche Gebete dabei besonders hilfreich waren.

Als sie im Hof wieder Abschied nahmen, floss die Gräfin vor Tränen über; der Graf umarmte ihn dreimal und beteuerte, er sei zwar Schwabe von Abstammung und Lehnseid her, aber seine Treue gehöre nun auf ewig dem König von Burgund.

Neuer Abschnitt ab hier:

Nichts gab größeren Triumph, als die Ordnung der Welt zurechtgerückt zu sehen. Hagen von Tronje war fortan der zweitmächtigste Mann des Reiches. Die einstige Geisel hatte sich erhoben aus dem Staub der Hunnensteppen, aus weisen Lehrstunden zur Führung eines Landes, aus dreiundzwanzig Schlachten und Jahren voller Bitterkeit.

Am Tag seiner Belehnung hatte alles Leid einen Sinn erhalten, denn jede Stunde Elend war notwendig gewesen, um ihn in Form zu gießen, alle Qualen hatten ihn gestählt – der Schmerz hatte ihn zu dem gemacht, der er sein sollte: der beste Diener für seinen König.

Sein König mit der Taubenseele brauchte einen Beschützer. Gunthers schwankende Klugheit, die jede Entscheidung schreckte, brauchte einen Mann, der ihm die Verantwortung abnahm. So wie man das Herz nicht ohne Rüstung den Feindesklingen entgegenreckte, sondern es hinter einem Schild verbarg, so brauchte Burgunds sanfter König einen Kämpfer, der ihn vor den Angriffen schirmte, der Gefahren, Vorwürfe und alle Hässlichkeiten der Herrschaft auffing wie der Schild die feindlichen Pfeile.

Die Pferde trabten zügig über die Straßen hin. Er erlaubte sich ein kurzes Lächeln, als keiner hersah. Die Macht gefiel ihm, schmeckte süß wie Rheinwein und passte ihm wie ein maßgeschneidertes Gewand. Wenn seinen Befehlen Gehorsam folgte, eilfertig und rasch wie der Bergbach dem Hang; wenn seine Missbilligung gefürchtet war wie das Anathema; wenn die Bewunderung der Braven, die Furcht der Feigen, der Gram der Neider und die ratsuchenden Bitten seines geliebten Herrn ihn allesamt umgaben, dann stand er stolz und genoss Ansehen wie Feindschaft gleichermaßen, waren doch beide die Insignien der Fähigen. Manchmal stellte er sich vor, wie es wäre, wenn die Dinge anders verlaufen wären, sodass statt seiner nun Dankwart an Gunthers Seite stünde, oder sonst jemand, jeder, nur nicht Hagen: Da fühlte er die Welt wieder aus den Fugen springen. Es war gut und richtig, dass er der Herzog war, und  – das war ihm wohl bewusst – für einen König Gernot oder Gibich wär er nicht der richtige. Er hätte ihnen auch nicht dienen wollen. Sein Herr hieß Gunther, in vita et in morte.

Vor ihnen erhob sich die Schwäbische Alb. Es ragten keine steilen Gipfel empor, nur waldige Höhen reihten sich aneinander in grüner Kette. Sie hatten bisher fünf Grafen getroffen, jedem von ihnen den Aufwand und die Kosten einer Übernachtung erspart und alle in freundlicher Gesinnung zurückgelassen.

Auf einem Bergsporn erhob sich die nächste Burg, beschützt von einer Buckelquadermauer und einem Graben an der einzig zugänglichen Seite. Der Turm jedoch war arg beschädigt, und Hagen glaubte sogar ein Gerüst zum Wiederaufbau an einer Seite auszumachen. Die Kuppe des gegenüberliegenden Bergsporns war kahlgehauen und zerfurcht. Schanzen zeigten an, wo die feindliche Blide gestanden hatte.

Der schwäbische Graf empfing sie mit soviel Herzlichkeit, wie ihm bei seinem offenbar grimmen Temperament möglich war. Auf die Fragen seiner Gäste hin schilderte er bereitwillig, wie er den Belagerer getrotzt hatte bis zum Eintreffen von Entsatz. In der Schlacht, die daraufhin entbrannte, hatte er fünf Feinde überwältigt. „Was aber nützt mir nun der Ruhm? Er baut ja meinen Turm nicht wieder auf!“

Der Graf war allerdings gastlicher als sein Nachbar im Norden: Er bot dem burgundischen Gefolge statt Bier immerhin Wein an. Dann bat er Gunther und Hagen auf ein kurzes Gespräch in seine Kammer.

„Herr vom Rhein“, sprach er, als sie Platz nahmen, „Ihr wollt also entscheiden, welcher Partei der junge Herzog zur Erziehung übergeben werden soll?“

Gunther erwiderte mit sanfter Miene, dass er keineswegs zu entscheiden kam, sondern zu raten und zu vermitteln. Hagen betrachtete derweil die harten Züge des Grafen, die Schwerter an der Wand hinter ihm und die zerhauenen Schilde.

Der Graf lehnte sich vor und senkte die Stimme. „Ich hoffe doch, dass Eure Vermittlung der richtigen Partei zum Sieg verhilft. Es geht um Schwabens Zukunft, ob sie leuchte oder dahinwelke.“ Er verstummte, harrte einer Antwort mit wölfischem Lauern.

„Dessen könnt Ihr gewiss sein: dass der König von Burgund stets das Richtige entscheidet“, sagte Hagen.

Der Graf lehnte sich zurück, unzufrieden ob der nichtssagenden Antwort. Hagen würde ihn aber schon für Burgund gewinnen. „Ihr habt in vielen Schlachten gefochten?“, fragte er den Grafen.

„In acht.“

Hagen hob anerkennend seinen Becher. „Der Krieg ist der größte aller Lehrmeister. Ich würde keine einzige meiner Schlachten verpasst haben wollen. Man wird doch erst im Angesicht des Feinds zum Mann.“

Das erfüllte den Grafen mit Lebhaftigkeit. „So ist’s! Wer nicht ein Schlachtfeld getränkt hat mit fremdem Blut und mit dem eig’nen, der kennt das Leben nicht, ist einfältig wie ein Lamm.“

„Ich kenne keinen Träumer und Taugenichts, den blanker Stahl nicht zurechtgeschliffen hätte“, sagte Gunther.

„Eben!“, rief der Schwabe aufgeregt und schlug auf den Tisch, „und da soll unser armes Schwabenland die nächsten acht Jahre von einem Weib geführt werden?“

Hagen hob den Zeigefinger mit Schwung und rief, sich derselben Emphase wie der Graf bedienend: „Mag ihre Hingabe an Sohn und Land auch untadelig sein – sie bleibt doch unerfahren, unwissend und waffenlos. Weiber können, das gesteh ich ihnen zu, Listen ersinnen, sich mit Tücke Vorteile und Verteidiger gewinnen, Verbündete heranlocken und Kriege entfesseln, aber die Härte und Kühnheit eines Mannes geht ihnen ab, deshalb müssen sie zwangsläufig straucheln im Falle größter Gefahr.“

„Genau!“, fiel der Schwabe ein, „Ihr seht es ganz richtig, Herzog! Bei aller Verehrung für die Weiberschaft – sie haben an der Spitze eines Reiches nichts verloren! Was wär mit uns, wenn ein Krieg ausbräche? Sollen wir auf Befehl einer Frau zu den Waffen stürmen, auf ihren Wink hin Frieden schließen?“

„Der Vater aller Dinge hat nur Söhne, keine Töchter“, sprach Gunther bedachtsam.

Der Schwabe kannte seinen Heraklit nicht und nickte umso eifriger, um es zu verbergen.

Hagen sagte: „Und wie soll aus dem jungen Herzog ein rechter Mann werden, wenn er allzeit weiblichem Einfluss ausgeliefert ist? Ein Knabe braucht die Führung ehrlicher Männer, sonst wird er verweichlicht und schwach, kaum stärker als seine Schwestern! Ich selber hab’s erfahren, im Hunnenland: Mich hemmte eine unselige Neigung zu Geistesdingen, ich war mehr der Feder als der Klinge zugetan, aber der Hunnenkönig hat mich in die Schlacht geführt – da begriff ich, was allein die großen Fragen der Welt entscheidet: Kühnheit und Selbstzucht, Mut und Eisen!“

Der Schwabe hielt nicht mehr an sich, hämmerte nun mit beiden Fäusten zugleich auf die Tischplatte. „Das sag ich auch, das sag ich immerzu! Der Junge gehört in die Hände von Männern, nicht in die weichlichen Mutterarme! Er soll uns einst als Kämpfer und Sieger vorangehen –“

„So wie mein Herzog dem Heer und dem Reich“, sagte Gunther nebenbei.

Der Graf schüttelte bekräftigend den Zeigefinger und rief: „Ganz recht! Er soll ein Mann sein, zu dem Männer aufblicken!“

Ihre Verabschiedung war weitaus wärmer als das Willkommen.

Wie der Graf Hagen die Hand gab, raunte er ihm zu: „Gute Reise! Mein Herz ist voll Vertrauen, dass Ihr die richtige Partei stützen werdet, und Schwaben wird’s Euch immer danken.“

Neuer Abschnitt ab hier:

Nach vier Tagen erreichten sie den Südrand der Alb. Auf einem Bergsporn schlugen sie das Lager auf. Unter ihnen schlängelte sich die Donau dahin, und gegen Süden erstreckte sich flaches Land, nur von kleinen Dörfern gesprenkelt, bis es mit dem Horizont verschmolz. Während die anderen noch die Aussicht lobten, ließ Hagen den Blick über den Bergvorsprung schweifen: Er war flach und bot genügend Platz für eine Siedlung. Kein Feind, und wäre er noch so kühn, würde es wagen, die steilen Hänge erstürmen zu wollen; nur von Norden aus war das Areal erreichbar. Sonderbar, dass hier niemand, nicht einmal die Altvorderen, eine Stadt gegründet hatte.

In den Abendstunden traf auch das Heer ein. Feuer wurden entfacht, Ochsen drehten sich am Spieß, Lieder wurden angestimmt. Volker beklagte bei jedem neuen Sänger dessen mangelndes Kunstverständnis, und wie Hagen schließlich schulterzuckend murmelte, für ihn klänge ohnehin alles gleich, nannte Volker ihn einen Barbaren der Musik. Ja gut – was nicht falsch war, wollte er nicht leugnen.

Mit Gunther sann er eine Weile darüber nach, warum dieser Ort nie besiedelt worden war; Gunther sagte bedächtig, es müsse hier irgendwo das reiche Pyrene gelegen haben, ein mächtiges Handelszentrum, von dem selbst die Griechen berichtet hatten. Inzwischen waren aber alle Spuren längst verschwunden, und das Rätsel um seine Lage würde wohl nie gelöst.

Der nächste Morgen brachte dem Lager Unruhe und Aufruhr. Laute Stimmen rissen Hagen aus dem Schlaf: „Seht nur, seht!“, rief es von überall, und er verabscheute böse Überraschungen am frühen Morgen. Nicht einmal seine törichten Knappen waren da, nutzlose Dummköpfe. Er warf hastig das Gewand über, schnallte sich Schwert und Dolch um und eilte hinaus. Die ersten drei Männer, die er barsch fragte, was los sei, wussten von nichts, aber gingen unverdrossen den andern nach.

Er fluchte leise. Wie er das hasste, wenn er nicht Herr der Lage war! Dann folgte er zügigen Schrittes.

Am Rande des Abhangs drängten sich die Leute, deuteten aufs Land hinaus und schienen mehr ergriffen denn argwöhnisch.

Er trat neben Gunther. Der sagte mit seiner üblichen Sanftmut: „Einen guten Morgen, Herzog.“

„Sofern ein Morgen gut sein kann. – Was ist gescheh’n? Kommen die Schwaben?“

Gunther löste den Blick erst jetzt vom Horizont und schaute stattdessen Hagen an mit treuem Mitgefühl. „Gottes Schöpfung bewundern wir. Man sieht die Alpen.“

Ach so. Er kniff die Augen zusammen, konnte jedoch trotzdem nichts erkennen. Es musste an seiner verdammten blassen Haut liegen, dass er in der Ferne schlecht sah. Tausendmal hatte er das schon vermutet.

Gunther neigte sich leicht zu ihm. „Sie sind schneebedeckt, kühn zerklüftet und ziehen sich“, er vollführte eine Geste, die fast den ganzen Horizont vor ihnen umfasste, „von da bis dort.“

Das Heer einer der schwäbischen Parteien wäre Hagen lieber gewesen – dann hätte er mit seinen Intrigen fortfahren können. Gunther dagegen war von Ehrfurcht erfüllt. „Auf einmal ist die Welt klein geworden, hat mir das weite Land gezeigt, das sonst nur mutige Pilger kennen, ja, ich fühl mich wie ein wahrhaft willkommener Gast, für den man die schönsten Kostbarkeiten hervorgeholt hat! Und alle da unten scheinen wie meine Brüder und Schwestern, vereint unter Gottes Juwelenhimmel. Da, da glänzt ein See! Nicht einmal der? Oh. Weißt du, was ich noch denke? Es ist, als ob der Horizont uns einlädt, ihn zu besuchen. Die Fremde soll uns bekannt werden, die Ferne will uns begrüßen. Und hinter den Bergen, ach, mir ist’s, als wär ich fast schon dort: liegt das ewige Rom und der Papst!“

Eine Stunde später kehrten zwei vorausgeschickte Boten ins Lager zurück. Sie meldeten, dass die Herzogin und ihre Gegner nunmehr die Heerscharen versammelt hatten. Die Großen des Herzogtums waren bereit, ihren jungen Herrn mit Waffengewalt aus der Obhut der Mutter zu befreien; die Herzogin schien den Kampf jedoch zu scheuen und entwich den Bewegungen ihrer Feinde in weiten Zügen. Vor einigen Tagen hatte sie vor Ulm gelegen, hatte sich dann nach Süden aufgemacht und näherte sich nun schon Konstanz. Die Fürsten rückten von Altdorf heran.

„Sollen wir ihnen entgegenziehen?“, fragte Gunther besorgt. „Ich will nicht, dass sie doch noch eine Schlacht wagen. Ein schlechter Schlichter wär ich, wenn ich das zuließe.“

Ein paar der Fürsten nickten dazu. Hagen aber riet dagegen: „Das ist allzu unwahrscheinlich; da die Parteien gleich stark sind, wissen sie sehr wohl, dass Niederlage und Sieg beinahe dasselbe kosten müssten. Bleibt hier an diesem Ort, hoch über dem Streit in der Ebene, und wartet, dass sie zu Euch kommen. Denn mehr noch als Schlichter seid Ihr König und habt das noble Recht, ihre Ehrerbietung zu empfangen.“

Sein kluger Herr stimmte ihm daraufhin zu.

Eine Woche lang verweilten sie auf dem Bergsporn am Rande der Alb. Bald schon freuten sich nur noch die empfindsamen Gemüter, wenn bei klarer Luft die Alpen aus dem Horizont traten; den schnörkellosen Naturen war es rasch einerlei geworden. Die Sonnenuntergänge prangten jeden Abend verschwenderisch in allen Farben des Feuers, wie ein gefahrloses Abbild von Untergang und Vernichtung.

Nach sieben Tagen sah man das Heer der Herzogswitwe heranziehen. Zwei Boten hatte sie losgeschickt, um den Ablauf des Zusammentreffens abzusprechen. Die Boten verlangten schamlos, Gunther solle dem Weib fünf Schritte entgegengehen, und sie ihm genauso viele!

Volker von Alzey, dem die Planung des Begegnungszeremoniells oblag, wollte tatsächlich einwilligen!

Ein Glück, dass Hagen hinzugekommen war; nun konnte er diesen Unfug verhindern.

„Ich hoffe, mich verhört zu haben“, sagte er zu den Schwaben mit einem Tonfall, dessen übersanfte Freundlichkeit ihnen Falten der Verwirrung auf die Stirn trieb, „denn es geht nicht an, von einem König zu verlangen, dass er einer Herzogsgattin – einer verwitweten – dieselbe Ehre gönnt, wie sie ihm zu zollen geneigt ist. – Nein, das könnt Ihr nicht verlangt haben. Es muss mein Irrtum sein.“

Die Schwaben schwiegen, warfen einander unwillige Blicke zu und flehten wohl jeder insgeheim, dass der andere etwas zu erwidern wage.

„Sieben Schritte darf die Herzogin meinem Herrn entgegengehen, und er kommt ihr mit drei entgegen“, sagte Hagen großzügig.

Der Alzeyer stand neben ihm, blickte offenbar unbeteiligt zu Boden und konnte doch das verschmitzte Lächeln nicht verbergen.

Einer der Schwaben fasste Mut. „Mit Verlaub, und mit aller gebührenden Hochachtung für Euren König – aber sieben und drei sind nicht annehmbar für uns. Bedenkt, dass er als Vermittler zu uns kommt, nicht als ein Lehnsherr!“

„Bedenkt, dass mein Herr gesalbt und gekrönt ist, dazu schon in Schlacht und Zweikampf Sieger war. Es ist keine Herabsetzung Eurer Herrin, wenn ich verlange, dass Ihr dem König gebt, was ihm gebührt; es ist die Würdigung des Höherrangigen, die Euch obliegt und die Ihr verweigern wollt.“ Er zog einen Stuhl her und setzte sich, wobei er Wert darauf legte, dass sein kostbar besetztes Schwertheft nicht vom Faltenwurf des Umhangs verdeckt war. Er wies den Boten ebenfalls einen Platz an, auch Volker, und hieß Volkers Knappen, ihnen einzuschenken.

Die Boten murmelten ihren Dank; derjenige, der vorher geschwiegen hatte, schien jetzt nicht mehr zurückstehen zu wollen. Feigling sein war keine Zier. „Edler Herzog, doch drei und sieben – wisst Ihr, obwohl unsere Herrscher keine Könige waren, steht unser Land hinter dem Eures Herrn nicht weit zurück, ist nicht viel kleiner, und unsere Krieger sind ebenso kühn wie die von Burgund!“ Während der Stunden im Kronrat hatte Hagen erkannt, dass schon seine Reglosigkeit allein die Leute einschüchterte; wenn er dann noch mit dem Blinzeln aufhörte, seinen kalten Blick keinen Moment lang unterbrach, brachte das die Leute völlig in Verunsicherung. Er hatte schon die beredtesten Boten damit zum Stottern und Stammeln gebracht. Auch jetzt zeigte diese Angewohnheit Wirkung: Der Schwabe geriet in Aufregung, sah mit raschem, kleinem Kopfnicken zweimal zu seinem Gefährten hinüber, ob der ihm Hilfe geben könnte, und murmelte dann gepresst: „Doch Ihr seid selbstverständlich der allerkühnste, Herzog.“

Hagen verzog keine Miene, sondern nahm die Aussage mit der knappsten Verneigung zur Kenntnis. „Drei und sieben also, besten Dank“, sagte er. Er streckte die Hand aus. Der eine Bote lehnte sich vor, als schien es ihm geboten, einzuschlagen.

Volker sagte plötzlich: „Man darf natürlich nicht vergessen, dass die Herzogin unlängst den schlimmsten Schicksalsschlag im Leben einer Frau erlitten hat, den Verlust des Gatten.“ Was tat er da? Er sprach zu Gunsten der Schwaben? „Um sie in ihrem Leid zu ehren, ist unser guter König gern bereit, ihr einen weiteren Schritt entgegenzugehen.“ Warum zum Teufel glaubte Volker von Alzey entscheiden zu können, was Gunther bereit war zu tun? Für wen hielt er sich?

„Unser guter König hat aus Mitgefühl zehn Messen für den hingegangenen Herzog lesen lassen – im Dom St. Peter!“, fuhr Hagen auf. „Er braucht sein Beileid nicht zu beweisen, er tat schon genug – was Ihr, verehrte Boten, sicherlich zu schätzen wisst.“ Zu heftig, zu heftig! Milder fügte er hinzu: „Und selbstredend wird er bei der Begrüßung noch einmal in gütigen Worten seinem Bedauern Ausdruck verleihen. – Drei Schritte, dabei bleibt es.“

Ein gequälter Blick wechselte zwischen den Boten hin und her, gefolgt von einem kaum merklichen Nicken.

„Außerdem“, rief Volker und breitete die Arme über der Rückenlehne des Stuhls aus, „ist es in der heutigen Zeit die Freude eines jeden Ritters, den Damen seine Hochachtung zu zeigen. Unser König Gunther, ein Muster an Höfischheit, würde Eurer Herrin, wär er nicht selber Herrscher, gar liebenswürdig aus dem Sattel helfen; so aber offenbart sich seine Ritterlichkeit in den vier Schritten, die er der edlen Witwe entgegenkommt. Vier Schritte sind es, nehmt mein Wort.“

War er denn von Sinnen? Was sollten die Boten denken, he? Ja, Hagen spürte genau, dass sie die gebührende Ehrfurcht vor ihm ablegten; Oh, der Tronjer droht nur, doch er wagt nicht zu beißen, dachten sie gewiss! Törichter Volker! Was ritt ihn, dass er die Stimme des mächtigsten Fürsten untergraben wollte! – Hagen konnte nicht erneut widersprechen, sonst machte er sich zum Gespött. Retten, was zu retten war.

Er nahm sich zusammen, passte auf, dass seine Gesichtszüge nichts von seinem wahren Seelenzustand verrieten, und sagte streng: „Das ist eine der außergewöhnlichsten Eigenschaften meines Königs: Er räumt stets der Bescheidenheit den Vorrang vor der Tradition ein; so demütig trägt er die Krone, dass er die Ehren, die ihm zustehen gemäß Sitte und Ordnung, stets mild und huldvoll mit jenen teilt, deren Ehrung er entgegennehmen sollte. Vier Schritte von ihm, und sechs von der Herzogin.“

Die Boten nahmen draufhin eilends ihren Abschied. Sie befürchteten wohl, Hagen ändere seine Ansicht wieder? Das täte er allzu gern, allein der Alzeyer würde ihm erneut dazwischenfahren.

Volker geleitete die Boten hinaus. Kaum war er wieder eingetreten, warf Hagen die eisige Starre ab wie den schwergewordenen Schild nach der Schlacht. „Warum zum Teufel fallt Ihr mir in den Rücken, Graf? So wie Ihr mich vor den Fremden bloßgestellt habt, sollte ich Euch zum Gefecht herausfordern! Ihr könnt mit mir nicht derart verfahren – ich bin der Herzog!“

Volker zog es vor, erst zu schweigen. Er hob seine Hand mit dem gräflichen Siegelring und betrachtete sie.

Unerhört, unerhört! „Sprecht!“

„Oh weh, ich bin enttäuscht von Euch. – Kommt Ihr wahrlich nicht selber drauf, warum ich nicht emsig nickend Eure Forderung mit dem Lorbeer meines Beifalls bekränzte?“

„Nein, das kann ich mir nicht erklären.“

Volker nahm sich gar heraus, zu lachen. Für wen hielt er sich? Hagen ballte die Fäuste.

„Wisst Ihr, Herzog – schon seit zehn Jahren – da wart Ihr sechs, nicht wahr? Nein, fünf, fünf! Schon seit zehn Jahren obliegt mir die Pflicht, die Zusammentreffen des Königs mit anderen Herrschern im Verein mit deren Leuten zu planen, und meine Pflicht, die erfüllte ich allzeit zur Zufriedenheit meiner Herren. Doch auf einmal soll ich ahnungslos und tumb durch die Jahre gestapft sein, von keinem Gedanken je beschwert, ein Stümper reinster Sorte, und wär ohne die ungestüme Anleitung durch einen landfremden Jüngling hilflos verloren wie der Käfer auf dem Rücken? Nein, mein lieber Herzog, dem ist nicht so.“

„Und weil Ihr Euch von meiner Anwesenheit gekränkt saht, hieltet Ihr es für angemessen, Euren Trotz an unserem König auszulassen? Er ist’s, der nun einem Weib mehr Ehre angedeihen lassen muss, als ihr zukommt! Ein solches unwürdiges Verhalten hätt’ ich von Euch nicht –“

„Seine Ehre wird es verkraften“, sagte Volker. „Vier Schritte sind keine Zumutung; im Übrigen ließ er mir für alle Aufgaben des Zeremoniells völlig freie Hand. Noch vor seiner Krönung war das – also vor Eurer Zeit bei Hofe.“

Hagen hielt nicht länger an sich, die Wut musste heraus. „Aber vor den Boten habt Ihr mich gedemütigt! Als hätt’ ich’s nicht schon schwer genug mit meinem Alter und meiner Vergangenheit bei den Hunnen!“

Volker kam heran, klopfte gar seine Schulter, als wäre Hagen ein schäumender Gaul – verdammter Kerl – und sagte versöhnlich: „Aber ich trag’s Euch nicht nach, denn ich hege die Hoffnung, dass Ihr einsichtig seid. Ein and’rer freilich hätte Euch eine solche Einmischung nicht vergessen. Denn der Groll über den, der unsere angestammten Pflichten besser zu erfüllen meint als wir, wär unsterblich, wenn nicht die Menschen sterblich wären. Drum sag ich’s Euch im Guten: Ihr seid zwar Herzog und Etzels Bezwinger, klug und stur, mögt vieles besser machen als die meisten – doch wo die menschliche Eitelkeit Grenzen zieht, da könnt nicht einmal Ihr hindurchstürmen, ohne dass Ihr Euch zum ungerechten Angreifer macht. Denkt drüber nach, Ihr werdet sehn, ich habe Recht.“

Er wandte sich um und ging hinaus. Hagen stand eine Weile lang im Zelt und ärgerte sich. Als sich die erste Wut allmählich verzog wie Rauch, schienen ihm Volkers Mahnungen vielleicht halbwegs vernünftig.

Anmerkungen:

Das Lied über schwäbische Straßen, das der unglückliche Rossknecht immerzu singt, ist eine Anspielung an ein Lied, das auch Menschen aus dem Rest Deutschlands kennen: „Uff dr schwäb’sche Eisebahna“. Da es im Mittelalter selbstredend keine Eisenbahnen gab, habe ich das Wegenetz genommen. Im Eisenbahn-Lied kommt allerdings ein Tier zu Tode, und das ist sehr gemein!

Buckelquader: ganz typisch für hochmittelalterliche Burgen im deutschsprachigen Südwesten

Feindliche Blide: „die größte und präziseste unter den mittelalterlichen Belagerungsgeräten und eine Unterform des Katapults“ (Zitat Wikipedia, eingesehen am 24.12.2024)

Gespräch der Wormser mit dem martialischen Schwaben: Dass Gunthers Einwürfe praktisch substanzlos sind, nichts zum Gespräch beitragen und nur Zustimmung signalisieren, ist so beabsichtigt. Er überlässt Hagen die Gesprächsführung, da diesem das Aufwiegeln und Hetzen viel besser liegt. Der Schwabe ist konzipiert als ein typischer Choleriker, und die wollen ohnehin nur Gesprächspartner, die ihre Meinung teilen.

„für einen König Gernot oder Gibich wär er nicht der richtige. Er hätte ihnen auch nicht dienen wollen“: Ich bin mir noch unschlüssig, ob ich diesen Satz so lassen soll. Im Epos ist Hagen seinen drei Königen Gunther, Gernot und Giselher treu – dass er hier Gernot nicht dienen wollte, ist vielleicht ein zu großer Widerspruch; andererseits ist es für die Figur auch müßig, darüber nachzudenken. Es ist gut möglich, dass ich diesen Satz später noch ändere.

Bergsporn am Südrand der Schwäbischen Alb: Manche haben gewiss erkannt, dass ich hier deutlich auf die Heuneburg anspiele. Für diejenigen, die sie nicht kennen: Die Heuneburg war ein keltisches Machtzentrum. Die dortige Goldschmiedekunst lag auf höchstem Niveau; die weiß getünchte Lehmziegelmauer nach phönizischem Vorbild ist einmalig in Nordeuropa. Die Heuneburg gilt sogar als die älteste Stadt Mitteleuropas. Nach ihrer Zerstörung im Jahre 450 v. Chr. wurde sie nicht wiederaufgebaut. Sie wird heutzutage häufig als die vom griechischen Geschichtsschreiber Herodot erwähnte Stadt Pyrene identifiziert.

Ob Herodot im Hochmittelalter bekannt war, müsste ich nachschauen, ist aber für diese Szene egal, da ich der Anspielung halber Gunthers Kenntnisse über den antiken Chronisten voraussetze. Ob das Areal im Hochmittelalter bewaldet war und somit die Wormser daran gehindert hätte, hier ihr Lager aufzuschlagen, weiß ich auch nicht – aber darüber hätte ich mich ebenfalls hinweggesetzt.

Warum es mir so wichtig war, die Figuren gerade auf dem Areal der einstigen Keltensiedlung wirken zu lassen: Der Bergsporn mit der Ausgrabungsstätte, einem Freilichtmuseum und seiner großen ärchaologischen Bedeutung gehört zur Gemeinde Herbertingen-Hundersingen. Und wer lebt auch in Herbertingen?! Eure Lili Vogel!
Darum wollte ich die Wormser einfach mal „bei mir zuhause“ auftreten lassen.

Link zum Artikel über das Buch über die Keltenfürstin später hier einfügen

Der See, den Gunther als Teil der Sicht erwähnt, ist der Federsee.

Hinter den Bergen liegt das ewige Rom und der Papst: Der Burgunderkönig Sigismund reiste zweimal nach Rom und sprach mit dem Papst. Dies war noch zu Lebzeiten seines Vaters Gundobad, Sigismund hatte wie vor ihm sein Onkel Godegisel den Rang des nachgeordneten Königs inne. Er konvertierte noch zu Lebzeiten seines Vaters vom Arianismus zum Katholizismus, wahrscheinlich nach der ersten Rückkehr aus Rom daheim in Burgund.

(S. Avitus-Buch)

Die beiden Heere versuchen einander auszuweichen, dabei werden Konstanz, Ulm und Altdorf erwähnt: Dies ist vielleicht ein eigenwilliges Itinerar für die Bewegungen des herzoglichen und des fürstlichen Heers. Ich wollte jedoch die Städte erwähnen, die schon im Mittelalter von großer Bedeutung waren (und an denen ich selber auch gewesen bin. Ich kam nämlich sonst nicht viel herum in der Welt). Konstanz als Bischofsstadt (und im Spätmittelalter, wie jeder weiß, Konzilsort) und Ulm als Schauplatz zahlreicher Hoftage sind schöne Beispiele für schwäbische Zentralorte. Altdorf, das eng mit der Welfendynastie verbunden ist, nannte sich im 19. Jahrhundert in Weingarten um.

Abstimmung zwischen den beiden Herrschern über den Ablauf des Begegnungszeremoniells: Das habe ich mir nicht ausgedacht, das war wirklich so, die Zahl der Schritte inbegriffen. Im Mittelalter hatten Rituale den Zweck, Rechtsakte und wie hier Herrschertreffen nicht nur zu begleiten, sondern waren unverzichtbarer Bestandteil, um einem Rechtsakt, einer Königswahl usw. Legitimität zu verleihen. In der weitgehend schriftlosen Gesellschaft hatten die Rituale zur rechtsbezeugenden auch rechtserzeugende Wirkung. Dies ging so weit, dass ein falsch durchgeführtes Ritual (z. B. eine Krönung mit den richtigen Insignien, aber nicht am angestammten Krönungsort oder andersherum) dazu führen konnte, dass der gesamte Rechtsakt von bestimmten Parteien als nichtig angesehen wurde. Vgl. hierzu das großartige Buch „Rituale der Macht“ von Gerd Althoff, und für die Neuzeit das ebenso großartige Buch „Des Kaisers alte Kleider“ von Barbara Stollberg-Rilinger.

Dass Hagen behauptet, er habe sich verhört, da die Boten nicht in echt solch eine dreiste Forderung stellen könnten, ist inspiriert von einer Bismarck-Anekdote mit den Franzosen.

Den schlimmsten Schicksalsschlag im Leben einer Frau, den Tod des Gatten: Ich lasse hier nur das Patriarchat sprechen.

Höfischheit: Das mittelhochdeutsche hövescheit bezeichnet noch weit mehr als unser heutiges Wort Höflichkeit umfasst. Mit Hövescheit ist ein ganzes Geflecht von Tugenden und Verhaltensweisen abgedeckt, die zusammen den höfischen Lebensstil bilden sollen. Darin sind Heiterkeit enthalten und edle Sitten, usw.

Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 2

Blüten im Sand

Dieses Kapitel hat nur 1500 Wörter. Es gibt diesmal keine Anmerkungen.

Am Nachmittag drängten sich Tausende um den Turnierplatz, ganz Worms und Umland war gekommen. Die Frauen auf der Tribüne in ihren kostbaren Seidenkleidern, durchwirkt mit Gold- und Silberfädchen, mit Steinbesatz und Bernsteinschmuck, schillerten zart wie Libellenflügel.

Zwei Reiterscharen würden nun gegeneinander streiten und sich bemühen, die Ritter der Gegenseite bis zur eigenen Bande zu zerren, wie man bei der Schlacht den Feind ins eigene Lager schleifte. Als Preis fiele die Rüstung des Unterlegenen an den Sieger, aber nicht mehr das Ross. Gunther hatte es eigens so bestimmt. Zu viel Kummer und Bitterkeit hatte diese Sitte schon gesät, als dass er noch neuen Groll wachsen lassen wollte.

Die Scharen waren vom Los bestimmt worden; es fochten drum Männer des Erzbischofs von Mainz gemeinsam mit Vasallen des neuen Herzogs; königliche Ritter an der Seite der Bruchsaler, Speyerer neben Trierern. Auf glatte Rheinkiesel hatte man die Wappen aller Teilnehmer gemalt, sie in einen goldbestickten Seidenbeutel gegeben, aus dem Kriemhild nacheinander die Steine, ohne hinzusehen, herausgeholt hatte. Abwechselnd wurden die Männer den zwei Scharen zugeordnet. Volker von Alzey hatte ihr dabei geholfen, indem er für jeden Gezogenen einen kecken Zweizeiler zustandebrachte, der dessen Kühnheit, Klugheit und Stärke lobte oder sich auf Volkers letztes Zusammentreffen mit ihm im Turnier bezog – selbstredend nur, wenn Volker auch den Sieg davongetragen hatte. Das gefiel den Leuten ungemein. Kriemhild stellte sich derweil derart geschickt an, dass es nur Gunther auffiel, wie sie ein paar Steine nicht aus dem Beutel, sondern heimlich aus ihrem langen Ärmel zog. Währenddessen behielt sie den liebreizendsten Gesichtsausdruck bei.

Da wunderte es ihn nicht, dass er derselben Schar wie Hagen angehörte. Dass einige derer, die Gunther besonders ergeben waren, auf der Gegenseite ritten, kränkte ihn auch nicht sonderlich.

Unter dem Jubel der Menge trabten sie nun auf den Turnierplatz. Schon stob der weiße Sand auf. Gegen die Posaunen der Herolde bliesen wild entschlossen die Instrumente der fahrenden Spielleute an. Die Kämpfer trennten sich auf; jeder Gruppe schwebte eine Fahne voran, rot hier, blau dort. Damit man die Eigenen von den Widersachern unterscheiden konnte, hatte ein jeder sich ein gleichfarbiges Tuch um den Arm gebunden. Volker von Alzey hatte noch ein Sträußchen Blumen drin verknotet.

Die Schlachtrösser stampften herrisch und wehrten sich gegen die Zügel. Triumphator war der feurigste, wieherte schrill, tänzelte und fing sogar an, zu steigen. Hagen ließ ihn eine Weile gewähren, und bändigte ihn erst, als er befand, dass seine Reiterkünste genug gewürdigt seien.

Ein Lanzenwald erhob sich auf der Gegenseite. Gunther hoffte nur, dass er nicht beim ersten Stoß zu Boden fiele. Beim zweiten bitte auch nicht – danach wär ihm alles gleich. Diese kleine Gnade könnte ihm der Herrgott doch schenken! Er hatte beim Anlegen der Rüstung eigens zehn Paternoster gebetet.

Die Zuschauermassen verstummten. Der Beginn war nahe. Ja! Ein Posaunenstoß zerriss die Luft. Betäubender Jubel stieg auf, rasch übertönt vom Rasen der Hufe. Die Gegner preschten heran; die Wimpel an den Lanzen flatterten. Schon senkte jeder die seine zum Stoß.

Gunther zielte auf Markgraf Eckewart, der aber nicht auf ihn, sondern auf Hagen. Eckewarts Lanze glitt an Hagens Schild ab. Gunther traf ihn gleichzeitig – schwungvoll genug, dass der Markgraf wankte, aber nicht fiel. Hagen hatte seinerseits auf den Mann neben Eckewart gezielt und ihn mühelos zu Boden geworfen. Hoch stiegen die Splitter, gingen nieder wie Regen. Später würden die hingebungsvollsten Zuschauerinnen sie vom ganzen Platz aufsammeln, zum Andenken an ein denkwürdiges Fest.

Die Rösser jagten bis zum Ende des Platzes; man zügelte sie und kehrte in weitem Bogen zurück zu den Knappen. Eilig die Ersatzlanze greifen, das Ross wenden, denn der Gegner würde nicht warten.

Auch beim zweiten Treffen blieb Gunther verschont vom Fall. Eine dritte Lanze gab es diesmal nicht. Er zog das Schwert. Kleine Grüppchen fochten miteinander vom Sattel aus oder kämpften zu Fuß. Schon wurden die ersten Unterlegenen, manche gar noch auf dem Ross, von einem oder zwei Rittern hinübergezerrt zur Bande.

Ein einzelner Reiter hielt auf Gunther zu. Gernot. Den hinderte keine Verlegenheit daran, den König als Gefangenen zu nehmen. Gunther gab Argentum die Sporen und ritt los, ihn zu empfangen mit eisernem Gruß. – Ein Reiter überholte ihn von hinten und griff Gernot an mit solcher Entschlossenheit, dass er zurückgedrängt wurde. Ortwin hatte ihn übereifrig gerettet. Das war ihm auch recht.

Doch schon nahte ein neuer Gegner. Wenigstens brauchte Gunther nicht tatenlos über den Platz zu traben, wie er es neben der Peinlichkeit des Versagens befürchtet hatte.

„Nehmt’s mir nicht böse, Herr, falls ich Euch überwinde!“, rief Volker von Alzey beschwingt. Er saß auf seinem kühnen Fuchs, hielt das Schwert so anmutig wie sonst den Fiedelbogen.

Ihre Klingen trafen sich. Es war ein harter Kampf. Natürlich gewann Gunther nicht; ihm wurde sogar die Waffe aus der Hand geschlagen. Mit dem Dolch kämpfte er weiter; plötzlich packte Volker Argentums Zügel und gab seinem Fuchs die Sporen. Argentum sträubte sich schnaubend und musste doch folgen. Gunther versetzte Volker mehrere verzweifelte Hiebe – da schoss wie ein schwarzer Raubvogel Triumphator heran.

„Nichts da!“, schrie Hagen gellend und ließ die Schildkante auf Volkers Arm niedergehen.

„Da ist der, den ich suchte!“, gab Volker zurück. „Verzeiht, Herr, doch gegen Euch kann ich nicht kämpfen wie ich’s vermag, ich will Euch immer schonen!“

Es begann ein Gefecht, das wohl als das beste ins Turnier einginge.

Gunther hielt sich höflich zurück, um Hagen nicht bei der Darbietung seiner Kampfkunst zu stören, und vertrieb bloß die übermütigen Jungspunde, wenn sie Volker von Alzey zu Hilfe eilen wollten. Wie Gezeiten wogte der Jubel der Menge.

Schließlich unterlag der Alzeyer. Auf eine Geste Hagens hin reichte er Gunther sein Schwert; dann packte Hagen das Ross am Zügel und stürmte mit seinem Besiegten davon.

Gunther wandte sich nacheinander zwei Rittern zu. Die Fügung Gottes oder reines Glück ließen ihn beide Male gewinnen. Wie er seine Widersacher zur Bande schleifte, brachen die Knappen in Hochrufe aus. Einer seiner Besiegten, der aufrechte Ewald von Federstein, klopfte ihm gar auf die Schulter und rief: „Herr, da bin ich stolz auf Euch!“

Gunther wurde es unter dem Helm noch heißer von der Verlegenheitsröte.

Er galoppierte zurück ins Getümmel. Ha, da sollten die Zweifler staunen; so, wie er heute kämpfte, konnten sie nicht mehr nur den schüchternen Weichling in ihm sehen. Er hielt Ausschau nach dem nächsten Gegner. Dort vorne! Oheim Godomar hielt entschlossen auf ihn zu. Schwer zu erringen wäre der Sieg gegen ihn – kurz sah Gunther sich um, wo sein Beistand herumflog – doch was war das? Eine Bewegung am Rande des Platzes, eine Gestalt in Grün huschte auf den Sand – Kriemhild! Was tat sie da? Wo die schweren Rufe flogen, hatte keine Frau herumzueilen! Er schrie ihr zu: „Bleib fort!“ Das Echo seines Entsetzens hallte in tausend Kehlen wieder.

Allein sie gehorchte nicht, sondern schritt weiter unerschrocken auf die Ritter zu. Gunther riss sein Ross herum.

So viele Gäule waren in ihrer Nähe, stampften, sprangen, keilten aus, mit genug Schwung in jedem Tritt, um einen Mann zu zerschmettern, erst recht ein Mädchen! Das ging nicht! Was seine Knappen wagten, durfte seine Schwester nicht tun! Er trieb Argentum zum wildesten Galopp.

Noch ehe er sie erreichte, schoss von der Seite Hagen heran, beugte sich im Galopp herab, packte Kriemhild und hob sie vor sich in den Sattel.

„Hol’s der Teufel!“, schrie er zornig. Sein Rappe blieb abrupt stehen, sodass der Sand bis hoch zu den Reitern spritzte.

Gunther hielt Argentum neben ihnen an. „Geht es um Mutter?“

„Das nicht.“ Kriemhild wischte sich den Staub aus dem Gesicht. „Die Freude hat zu versiegen. Ein Eilbote erreichte uns eben. Der alte Schwabenherzog ist tot. Untröstlich sind unsere beiden Gäste.“

„Oh weh“, sagte Gunther. „Aber warum bist du auf den Platz gerannt? Dich hätten die Gäule niedertrampeln können.“

„Unsere Herold hielten es für besser, den Buhurt nicht zu unterbrechen. Ich dagegen schätze es, wenn Burgund Anteilnahme zeigt, statt sich in jungenhafter Ausgelassenheit zu üben.“

Gunther nickte. Direkt hinter der hölzernen Absperrung standen nun die Edeldamen, Mutter zuvörderst, hatten die Tribüne verlassen und sahen besorgt zu Kriemhild herüber.

Vorwurfsvoll deutete er mit dem Finger auf seine Schwester. „Trotzdem war es gefährlich.“ Er wandte sich um, reckte das Schwert zum Himmel und rief um Ruhe. Manche hatten den Aufruhr bemerkt und das Gefecht schon unterbrochen; sie halfen nun, die anderen Kämpfe zu beenden.

Nach kurzer Zeit waren Geklirr und Geschrei erloschen; es wisperte nur ein Echo davon im erschöpften Gehör weiter, und aus den Reihen der Menge rollte bloß noch besorgtes Geraune.

Gunther sah abwechselnd von den Zuschauern zu seinen Männern hinüber, während er ihnen knapp die neue Kunde überbrachte. „Ein würdiger Herrscher war Herzog Burchard“, rief er laut, „unser verehrter Nachbar und Freund. Wir wollen ihm zum Gedenken den Frohsinn nun in Schweigen hüllen, den Überschwang vertauschen mit Abschiedsschmerz, und unsere Gebete inniglich nach Süden senden, damit ihm der Preis der Ewigkeit leuchten soll – und unserem geliebten Nachbarreich der Frieden und die Ordnung.“ Weil es ihm geboten schien, wandte er sein Ross in dieselbe Richtung und nahm den Helm ab als letzten Gruß.

Seine Ritter taten es ihm gleich, schweigend ein jeder. Kriemhild löste behutsam die Blumen aus ihrem Haar und ließ sie sacht zu Boden fallen. So kam das Fest zu seinem Ende.

Der König von Burgund und der Bastard, Kapitel 1

Sein Schwert und sein Schild

Unten stehen Erläuterungen. Das Kapitel ist ziemlich lang, 5000 Wörter, das ist oberer Durchschnitt für die Kapitel in Romanen. „Sein Schwert und sein Schild“ ist der Titel des Kapitels.

Los geht’s:

Zum ersten Mal seit seiner Krönung schien es König Gunther, dass er wohlgewappnet war für die Mühen und Kämpfe der Herrschaft. Die Sorgen waren verblasst wie Nebel im Frühlingsmorgenlicht, die bangen Ängste zogen sich zurück, und der Untergang, mit Feuersbrünsten, Schwertgeklirr und einer Sintflut nur aus Blut war bloß ein Hirngespinst, entstanden aus der Hilflosigkeit des führungslosen Jünglings. Fern lag alles, und könnte kaum ja eintreten. Er kam sich vor wie ein Mann, der bisher ohne Rüstung und Schwert in die Schlacht geschritten war, sich hatte ducken müssen vor jedem Schlag, und immer nur auf die Gnade des Himmels oder die Barmherzigkeit seiner Feinde hatte hoffen dürfen, denn selber kämpfen konnte er nicht. Jetzt aber war er gerüstet, brauchte nicht Feind noch Eisen zu scheu’n, und wenn die Schlacht auch schrecklich tobte, würd’ er schon nicht unterliegen. Sein Schwert war schärfer als jedes andre, sein Panzer schirmte ihn fest und stark. Der sanftmütige König Gunther war fortan wehrhaft und würde bestehen im Kampf langer Jahre.

Er fasste die Lehnen des Throns mit sich’rer Hand und blickte in den Saal hinab. Seine Männer waren versammelt in großer Zahl, gekleidet in ihre kostbarsten Stoffe, geschmückt von prächtigen Farben und Edelsteinen feinsten Schliffs. Die Sonnenstrahlen blinkten feierlich auf Rubinen, Goldfädchen und Siegelringen; Festesfreude leuchtete in der ganzen Pfalz, und am allerhellsten hier in seinem Herzen. Dass sich hinter mancher frohen Friedensmiene schlecht versteckt der Gram verbarg, auch Missmut oder Eifersucht, das wollte er heut noch nicht beachten. Für Argwohn war später Zeit.

Gespannt lagen die Blicke der Edlen auf ihm; früher hätte ihn das mit unwürdiger Aufregung erfüllt, sodass er so verlegen geworden wäre, wie es bei keinem Spross einer Königsdynastie möglich schien – aber seit gestern schüchterte ihn die Beachtung des Reiches nicht mehr ein. Fort war die Furcht, dass er ungehindert von Torheit zu Torheit stolpern würde; fort die Furcht, nicht zu wissen, was sagen, vorbei das Schwanken, Zaudern und Zagen.

Er gab dem Herold ein Zeichen, dass das Portal geöffnet werden sollte. Die Boten fremder Länder wollten ihm ihren Gruß erweisen, sich bedanken für die gastliche Aufnahme und mit schönen Worten ihn der Freundschaft und des Wohlwollens ihrer Herren versichern.

Er straffte den Rücken, ehe der Bote eintrat, und ließ ein gütiges, obgleich nichtssagendes Lächeln auf seinen Lippen erstarren.

Der Bote des französischen Königs kam als erster an die Reihe, wie es die Bande der Nachbarschaft und die Ehre seines Herrn geboten.

„Graf Fortpierre!“, rief der Herold klar und grell. Gunther neigte leicht den Kopf.

Der Franzose verbeugte sich tief, ehe er sprach: „Kein Wort wäre mächtig genug, edler König, um meine Bewunderung auszudrücken für das prächtige Fest, an dem teilzunehmen ich die Ehre hatte! Noch meinen Enkeln werd ich auf dem Sterbebett voll Verzücken von diesem Ruhmestag berichten, und meinem größten Erzfeind werde ich, zurück in meiner Heimat, sogleich in listiger Genüsslichkeit vom Prunk und Gepränge Eures Reichs erzählen, damit er sich noch bis ans Ende seiner Tage grämen mag, welche Wonne mir, jedoch nicht ihm, dank Eurer Gunst beschieden war.“

So waren die Franzosen alle – viele klingende Worte für die Dinge, die ein Schwabe oder ein Sachse mit einem einzigen Satz bedacht hätte. Gunther nickte kaum merklich. Der Franzose, begeistert vom Flitterwerk seiner Rhetorik, fuhr eifrig fort: „Darum ist es mir genauso sehr wie meinem Herrn ein herzenstiefes Bedürfnis, Euch Glück und Segen zu wünschen zur Belehnung Eures neuen Herzogs. Dass er Euch immerzu als treueste und erste Stütze dienen möge, das ist ganz Frankreichs aufrichtiger Wunsch.“

Gunther sah kurz zu Hagen hinüber. Er stand zu seiner Linken, an der Stelle des alten Herzogs, auch in derselben Haltung, eine Hand in der Hüfte abgestützt, den Kopf hoch erhoben, und völlig reglos. Nachdem Fürsten und Gesinde seinem Freund gestern mit wohlgemeinten Worten eine fruchtreiche Herrschaft, so viel Segen wie Regen an einem Novembertag, Augenmaß und kühlen Urteilssinn gewünscht hatten, verwehte Hagens seltene Heiterkeit plötzlich, und nichts blieb mehr zurück. Das merkte außer Gunther zwar keiner, denn Hagen gab sich äußerlich ungerührt wie sonst – er aber fühlte die Verwandlung, als träfe ihn frostiger Hauch aus Norden. „Was ist dir denn?“, hatte er ihn gefragt, indem er Hagen, den Weinkelch in der Hand, in eine Fensternische schob.

Wie er sich unbeobachtet hielt, gab Hagen alle Selbstbeherrschung auf und starrte in den Saal, als stünde er auf dem Schlachtfeld. „Sie wünschen mir jeder, dass ich dir treu dienen solle! Viele Jahre lang, bis zum Tod! – Ist das nicht offensichtlich, dass ich immer treu sein werd? Das versteht sich von selbst, das braucht man nicht erst zu erbitten, und es doch zu tun, ist eine Geringschätzung meiner Treue! Glauben sie, ich wollte dich verraten?“

„Unsinn“, hatte Gunther erwidert, „glaub mir, der ich schon einige Belehnungen vorgenommen habe: Es heißt nicht, dass man einen Mangel wahrnimmt und sich deine Treue herbeizuwünschen genötigt sieht – sondern das sagt man eben so!“

Nach einem kurzen Moment des Widerstrebens – denn so wie Gunther sich niemals gerne entschied, gab Hagen niemals gerne nach – sagte er „Na dann“, und nahm einen tiefen Schluck vom Wein.

Gunthers Mahnung wirkte auch heute noch: Hagen hörte die Glückwünsche ohne Grimm an und verneigte sich knapp zum Dank.

Der Franzose ergriff die Gelegenheit, um rasch weitere Wortgirlanden zu schlingen, bedachte die Königsmutter, die Damen und die vorzüglichen Fürsten mit seinem Lobpreis, auch die begabten Spielleute und die Schönheit des Festsaals, und erst als der Herold auf eine behutsame Geste Gunthers hin mit dem Beutel voller Münzen leicht zu klimpern begann, als wolle er gerade hineinlugen und nachzählen, kam der Franzose geschickt zum Ende und ließ sich zufrieden den Botenlohn überreichen.

Nach ihm durfte der sächsische Abgesandte eintreten. Bis heute war sich Gunther noch nicht sicher, ob Otto ihm die versuchte Zurückeroberung des Lösegelds verziehen hatte. – Hagen musste ihm später raten, wie er sich den Sachsenkönig wieder gewogen machen könnte.

„Edler König, meinen Dank für das schöne Fest, und dem neuen Herzog alles Gute“, sagte der Sachse.

„Habt Dank für Euer Kommen und Eure freundlichen Wünsche“, antwortete Gunther.

Schon war der Sachse wieder fort; der Bote aus Xanten kam als nächster. „Feste feiern kann Burgund“, sprach er mit durchdringender Stimme. „Mein Herr König Siegmund schickt seine besten Wünsche, für Euch beide, König und Herzog, und für Euer Reich. Ausrichten soll ich von ihm, dass er sich noch gut an den seligen Herzog erinnert, an den Mann, der – an Gold und Silber vielleicht nicht der reichste unter den Herzögen des Erdenrunds – doch einen noch teureren Schatz angehäuft hatte: die Weisheit als Ernte vieler Jahrzehnte.“

Eine leichte Bewegung rollte durch die Menge; es blieb nicht unbemerkt, wenn ein König eine Warnung aussprechen ließ.

Gunther legte die Hand ans Kinn und blieb ansonsten reglos. Hagen würde die Sorgen des alten Königs Siegmund zu zerstreuen wissen.

„Die Weisheit ist, darin sind sich mein Herr, der Eure und ich einig, ein Gut von unschätzbarem Wert. Aus diesem Grunde bedauern wir umso mehr das Ende meines Vaters, da ihn die Weisheit vor dem Leben verließ. Wir sind deshalb bestrebt, dieses kostbare Gut nicht nur selber über Jahre hinweg bedächtig anzusammeln, sondern wollen wie ein tüchtiger Kaufmann, dem keine Münze, sei sie noch so klein, zu wenig ist, die Weisheit schätzen, ganz gleich, woher sie stammt.“ Das hatte er mit demütigem Tonfall gesprochen, sodass, wer ihn zum ersten Mal getroffen hatte, sich wieder verabschieden würde mit dem Eindruck, dies sei ein sanftgestimmter Mann.

„Mein König wird sich freuen über Eure kluge Ansicht“, sagte der Bote. „Und gerne wird auch er mit seinem Rat dazu beitragen, dass Burgund das Alter und die Reife seiner seligen Verstorbenen nicht lange zu vermissen braucht.“

„Wir danken ihm dafür“, erwiderte Gunther. „Empfangt nun Euern Botenlohn als Pfand meiner Verbundenheit.“ – Und geht schnell, dachte er für sich. Schließlich hatte er schon seit seiner Krönung genug Klagen über seine Jugend und Unerfahrenheit gehört. Seit dem Tod des Herzogs waren natürlich noch Klagen über die Jugend und Wildheit seines neuen Lehnsmanns hinzugekommen.

Als der Xantener hinausging, warf ihm Hagen einen kurzen Blick zu und nickte ermutigend. An seinem zweiten Tag als Herzog war er schon gefestigt wie einer, der dieses Amt seit zwanzig Jahren innehatte. Wer zum Anführer geboren war, der gedieh im Glanz der Macht, wuchs heran wie ein starker Eichenstamm, und bot all denen Schutz, die, bekrönt und trotzdem bang, dem Sturm alleine nicht standhielten.

Der nächste Bote trat ein: Graf Ehrensam von Sigmaringen. Der war vorgestern, zur Verwunderung aller Leute, in der Begleitung seiner Gattin eingetroffen. Kein anderer Bote hatte jemals eine Frau mitgebracht. Gunther hatte beide wohlwollend empfangen und bewirtet. Jetzt kam der Schwabe jedoch ohne seine Frau. Er verneigte sich ausnehmend tief und sprach mit dem unverwechselbaren Mischklang aus nasalen und kehligen Silben: „Lieber König, ich seh Euch frohgemut an diesem schönen Morgen. Da trifft es sich gut, dass ich der letzte in der Reihe der Gesandten bin, denn mir obliegt die traurige Pflicht, den Kelch der Bitterkeit in die Festesfreude zu gießen. Was ich zu berichten habe, das hab ich bis heute verschwiegen, muss es nun aber verkünden mit Kummer im Herzen: Der edle Erbe unseres Herzogtums, Burchard, die Geisel bei den Hunnen, ist vor zwei Monaten im Kampf gefallen. Wir alle betrauern ihn sehr.“

„Nehmt mein tiefes Beileid an“, sagte Gunther und gab das steinerne Lächeln auf. Einige seiner Männer bekräftigten Burgunds Mitgefühl mit betrübtem „Ach“ und „Weh“.

Hagen hielt einen Augenblick lang inne, bevor er pietätvoll den Kopf senkte, als bringe der Verlust ihm Schmerz. Gunther wusste, dass er den Schwaben noch nie hatte leiden können.

„Ich werde eine Messe für den wackeren Burchard lesen lassen“, sagte Gunther, „damit seine Seele zum Heil finden darf.“

„Vielen Dank, guter König. Doch leider ist der Kelch mit Wermut noch nicht leer; das Unheil lässt von unserm lieben Schwabenland nicht ab! Der Herzog, unser geschätzter Herr, liegt an einer Krankheit darnieder, und Aussicht auf Genesung besteht nicht mehr.“

Dieses Mal entsprang die Betroffenheit seiner Männer nicht höfischem Anstand, sondern echter Bestürzung.

„Aber er befand sich doch bei bester Gesundheit, als ich ihn letztes Jahr noch traf“, rief Markgraf Eckewart.

„Die Krankheit kam rasch und unbarmherzig.“

„Wir beten für ihn“, sagte Gunther leise.

Graf Sigmaringen verbeugte sich. „Erlaubt Ihr, dass ich Euch noch genauere Auskünfte über die Lage des Herzogtums gebe?“

„Es ist mir ein großes Anliegen.“ Gunther erklärte den Empfang der Gesandten damit für beendet und entließ den Hauptteil der Versammelten. Niederadel, Äbte kleiner Klöster und Grafen mit mehr Stolz als Land sollten nicht dabei sein, wenn die Großen die Fäden des Schicksals knüpften.

Es blieben die Markgrafen Eckewart und Gerold von Trier, Ortwin von Metz, auch Volker von Alzey wegen seiner Fähigkeit, aufsteigenden Zwist zu zerstreuen, die Erzbischöfe von Mainz und von Trier, die Bischöfe von Worms und Speyer; Onkel Godomar und Gernot. Beim Hinausgehen mit der Mehrheit wandte sich Dankwart einmal kurz um und warf einen Blick zu seinem Bruder hinüber. Falls er sein Ungemach bedauerte, dann hatte er nur sich selber zu tadeln.

Die Fürsten kamen näher heran.

„Sagt, wie steht es um Schwaben?“, fragte Gunther.

Der Graf von Sigmaringen machte eine ernste Miene. „Uns drohen harte Jahre, falls nicht ein Wunder uns aus der Zwietracht retten wird. Der Erbe unseres Herzogs, der Sohn seiner zweiten Gemahlin, ist zarte sieben Jahre alt. Bis er volljährig ist, muss das Land von fähigen Regenten geführt werden. Seine Mutter, die kluge und umsichtige Elisabeth, ist bereit, diese wichtige Aufgabe zu erfüllen, wie es Recht und Tradition von ihr verlangen. Sie war es, die mich zu Euch gesandt hat mit der tränenheißen Bitte, dass Ihr für ihre Lage Mitleid habt. Doch eine Phalanx von Feinden stellt sich ihr entgegen, will mit der ehrwürdigen Sitte brechen, wonach die Herrscherin für ihren unmündigen Sohn das Szepter führen darf im Verein mit ihren Großen. Eine Schar mächtiger Männer beabsichtigt, ihr das Recht auf die Herrschaft abzusprechen, den Sohn fern von ihr zu erziehen, und sich zu versündigen wider Sitte und Ehrfurcht. – Von Feinden umgeben, gibt es nur eine Hoffnung, die meine Herrin noch tröstet: dass ihr gütiger Nachbar, der fromme König von Burgund, sich der bedrängten Frau und des bald vaterlosen Kindes annehme und sie wacker verteidige zum Wohlgefallen Gottes und aller guten Menschen. – Das, lieber König, ist der einzige Inhalt ihrer tränenschweren Gebete.“

Die Heiterkeit der Freudenstunden fiel wie Laub im Herbst. Dass denn kein Land die eigenen Wirren selber lösen wollte …

„Ich bedaure sehr, dass Zwietracht über Eurem Reich liegt. Wir wollen nun beraten; in Eurer Kammer steht derweil mein bester Wein bereit.“

Der Gesandte zog sich rasch zurück.

Die Türe war gerade erst geschlossen, da rief Hagen heftig: „Die Gelegenheit ist ein Geschenk! Ja zu allem!“

Gunther schüttelte den Kopf. „Was? Nein!“

„Mein König, man bietet Euch die Schiedsrichterrolle in einem drohenden Bellus Civilis an – wenn Ihr sie annehmt, könnt Ihr nicht deutlicher beweisen, dass Ihr im Kreis der Könige trotz Eurer Jugend der herausragendste seid; die Zweifel an unserer Weisheit räumen wir aus, und niemand kann mehr bestreiten, dass König Gunthers Burgund ein Reich der Friedensliebe ist!“

„Wie Ihr es schildert, wird’s aber nicht werden. Geh ich nach Schwaben, spreche Recht und lasse ein Land voller Eintracht zurück? Nein, denn mein Vorschlag würde ein Dutzend Fürsten erzürnen, jeder fühlte sich benachteiligt, und am Ende stehen wir einem geeinten Heer von Feinden entgegen!“

„Das werd ich zu verhindern wissen“, sagte Hagen knapp. „Herr, bitte, seht die goldene Tür, die sich Euch geöffnet hat! Ein führungsloser Landeserbe, der Adel uneins – Ihr könnt Frieden stiften und nebenbei den Dank und die Bewunderung der Schwaben gewinnen!“

Was redete er denn mit Silberzungen! Nach den zwei stürmischen letzten Jahren wollte Gunther Ruhe fürs Reich, nicht sich gleich wieder in irgendwelche Abenteuer stürzen!

„Ihr weisen Fürsten“, sagte er eilig, „den Herzog habt Ihr gehört – jetzt bitte ich um Euren Rat.“

Neben ihm hielt sich Hagen hoch und triumphierend, als habe er seinen Willen bereits durchgesetzt.

„Der Herzog hat vermutlich Recht“, sagte Ortwin zögerlich. „Wir könnten nach Schwaben ziehen, wenn dessen Herzog gestorben ist.“

Hagen nickte ihm zu.

„Da Ihr als Schlichter ins Land gerufen werdet, sehe ich keinen Anlass, dieses Anersuchen abzuschlagen“, sprach Markgraf Eckewart. – Schon zwei!

Gerold von Rechtenberg, Markgraf von Trier, sah mit hochgezogenen Brauen zu Hagen hinüber. „Mich wundert es, dass der Herzog von Tronje, noch ehe er den Umritt in seinem neuen Lehen begonnen hat, sich schon in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen gedenkt.“

„Für den Umritt findet sich später Zeit genug, schließlich habe ich, wie man nicht müde wird zu wiederholen, noch viele Dekaden vor mir. Doch dass ein Nachbarreich uns um Hilfe anfleht, das können wir nicht unbeantwortet lassen.“

„Ich sehe nicht ein, warum wir die Bitte der Schwabenherzogin abschlagen sollten“, sagte Onkel Godomar. „Allerdings sollten wir darüber beraten, wem wir die Vormundschaft über den jungen Erben zuerkennen wollten.“

Gunther bemerkte, dass nach diesen Worten ein kurzes Lächeln über Hagens Gesicht zuckte; nicht ein mitfühlendes, sondern ein berechnendes, als sagte er sich heimlich: Zehn Schritte bin ich euch voraus, und habe alles schon bedacht.

Der Erzbischof von Mainz klopfte mit dem Hirtenstab auf die Fliesen. „Ich schließe mich den Befürchtungen des Königs an. Armes Schwaben: Wehe dem Land, dessen König – oder Herzog – ein Kind ist. Wenn wir Partei ergreifen, werden wir nur auf Undank und Nachtragerei stoßen.“

„Ja“, rief der Bischof von Speyer, „bleibt in Eurem frohen Worms, mein Herr!“

Gunther senkte dankbar den Kopf.

„Ich enthalte mich“, murmelte Gernot.

Bischof Meinrad von Worms redete als nächster. Seine Stimme war hart wie Holz, denn was er sagte, fiel ihm schwer: „Ich schließe mich der Meinung des Tronjers an.“ Das war eine Überraschung – diese beiden stritten sich seit dem Tag, da Hagen nach dem Tod des alten Herzogs im Kronrat stand.

„Auch wenn wir alle noch vom gestrigen Fest gezeichnet sind“, sagte Volker von Alzey, „schließe ich mich der Meinung des Bischofs von Worms an. – Es ist ja die Erfüllung Eures Herzenswunsches, dass man Euch für den besten Mann hält, um den Ölzweig des Friedens zu überreichen.“

Gunther atmete tief ein. Das war nicht so gegangen, wie er sich gedacht hatte. Er nahm die Hände zusammen. „Vielen Dank Euch allen. Ich werde gründlich abwägen und später entscheiden, wie wir verfahren.“ Die verschobenen Entscheidungen waren ihm immer die liebsten.

Nachdem er sich von den Fürsten verabschiedet hatte, ging er zur Kemenate hinüber, um seine Mutter zu sprechen. Sie hatte die Frau des schwäbischen Grafen bei sich gastlich aufgenommen und hatte gewiss einiges über die schwäbischen Ereignisse erfahren.

„Wie schön, dass du mich wieder einmal besuchst“, rief Mutter, als er eintrat, und schloss ihn gleich in die Arme. „Du solltest öfter kommen“, raunte sie ihm zwischen liebevollem Küssen zu.

„Mutter, Ihr wisst doch, dass er beschäftigt ist“, murmelte Kriemhild von ihrem Platz auf der Fensterbank aus, „er muss den Herzog davon abhalten, das ganze Abendland in Unordnung zu stürzen.“ Sie lachte in sich hinein.

„Überhaupt nicht“, sagte Gunther. Die anderen Damen begrüßte er so flüchtig, wie der Anstand es noch erlaubte; dann setzte er sich mit Mutter und der Gräfin von Sigmaringen in eine Ecke. Mutter forderte ihre Damen auf, ein wenig Musik zu machen, dem Freudentag zu Ehren. Gleich erklangen Harfentöne und froher Gesang. Nun konnten sie sich unbelauscht unterhalten.

Die Gräfin war von hoher, schmaler Gestalt, mit einem knorrigen Gesicht und einer Nase, die an Charakter und Größe der eines grob behauenen Marmorreliefs glich. Ihre kleinen, aufmerksamen Augen spähten unaufhörlich umher oder richteten sich wissend auf ihr Gegenüber. Selten konnte Gunther bei Frauen nur vom Aussehen auf den Verstand schließen; bei dieser war er sich jedoch sicher, dass sie nichts, was gesagt wurde, vergäße.

Sie wechselten ein paar höfliche Floskeln, und Gunther drückte sein Bedauern über den Zustand des Schwabenherzogs und den Tod seines Erstgeborenen aus.

„Oh, wisst Ihr“, sagte die Gräfin, „wir trauern um den Jungen nur aus Pflichtgefühl. Er war seit Jahren bei den Hunnen, man hörte bloß bei der Rückkehr der Tributgesandtschaft von ihm, und sonst war er dem Lande fern wie der Priesterkönig Johannes oder die Pruzzen im ungebändigten Norden. Als wir von seinem Tod erfuhren, schien es mehr, als nehme die Geschichte eines Fremden ein Ende. Selbst sein Vater hat nur eine Stunde lang Tränen vergossen, und rief dann den neuen Erben an sein Krankenbett. Euer Herzog ist der Einzige in Schwaben und Burgund, der Burchard besser kannte.“

„Ja“, sagte Gunther. „Obzwar er, das muss ich gesteh’n, sich nicht zu seinen besten Freunden zählte.“

Die Gräfin fuhr fort: „Mehr Schmerz bereitet uns das Leiden unseres Herzogs. Er wird bald sterben – was dann? Wird sein Sohn den Armen der Mutter entrissen, wird er zum Siegespreis des hochmütigsten Fürsten? Wird er aufwachsen in Unruhe, als Spielball der Großen, die ihn alle nur wegen seiner angestammten Rechte schützen, und ihn nichts Gescheites über Herrschen und Kämpfen lehren, damit er auch als Erwachsener angewiesen wär auf ihre Führung? – Seine Mutter, meine gute Freundin, fürchtet sehr um ihn. – Sie sprach auch in letzter Zeit, nein, immer schon, sehr beeindruckt von Euch, schätzte Euer Bücherwissen, Eure Demut und Eure Nächstenliebe. Sie seufzte ab und an sogar, wie lieb’s ihr wär, wenn ihr Sohn zu einem Mann wie Ihr heranwachsen würde.“

Übersüße Schmeichelei! Schmählich, dass ihn alle für derart selbstverliebt hielten, dass sie glaubten, das Rezitieren von Panegyrici auf ihn selber gewänne ihnen seine Gunst.

„Als Schwabe braucht er Vorzüge, wie ich sie nur in geringem Grade besitze“, sagte Gunther. Es freute ihn, wenn er die feinen Lügengespinste der Schmeichler ohne Verlegenheit zerriss. „Er braucht nicht Bücherwissen, sondern Bodenständigkeit; er braucht nicht Meister sein im Ausrichten von Festen, sondern im Bewahren tüchtig verdienter Schätze; er muss nicht mit vielen schönen Worten Nichts zu sagen wissen, sondern klar und stark die Wahrheit benennen können. – Was er als wackerer Schwabe wissen muss, das wird er lernen, ob bei seiner Mutter oder in der Obhut seiner Fürsten.“ Er gönnte der Gräfin als Entschädigung für seine Abweisung sein liebenswürdigstes Lächeln. Sie blinzelte kurz, ehe sie sich versöhnt gab und ihn anstrahlte.

„Erlaubt?“, murmelte er leise, küsste ihre Hand und wies dann freundlich zu den musizierenden Mädchen hinüber. „Ich möchte meine Mutter noch alleine sprechen – wegen der Nachwirkungen einer alten Verletzung aus einer Schlacht.“ Er erhob sich, als sie aufstand.

Erst nachdem die Gräfin bei den anderen Platz genommen hatte, setzte er sich wieder.

„Wie sehr freu ich mich, dass du dir einmal für mich Zeit nimmst“, sagte Mutter – als habe er gerade nichts anderes im Sinn als Geplauder.

„Mutter, warum hat die schwäbische Herzogin auch noch eine Frau zu uns geschickt?“

Sie langte herüber und zog seinen Umhang glatter hin, damit die Edelsteine auf dem Saum besser das Licht fangen konnten.

„Sie ging davon aus, dass ihr Wunsch, den Sohn bei sich zu behalten, bei mir auf Verständnis stoßen wird. Sie vermutet auch, dass du und ich wissen, wie wichtig es ist, dass ein heranwachsender Fürst den Segen mütterlicher Fürsorge erfahren darf.“

Gunther zuckte zusammen. „Bitte was?“

„Sie sieht dich als ein erstrebenswertes Vorbild“, fuhr Mutter fort. „Das ist auch völlig richtig, denn kein König vereint mehr Tugenden in sich als du. Sie bewundert das Verhältnis zwischen uns beiden schon seit langem, und den Stellenwert, den sie mir im Herzen meines lieben Gunther zuschreibt, will sie sich selber im Herzen ihres kleinen Hermann bewahren. Söhne brauchen ihre Mütter auch noch lange, nachdem sie es leugnen. – Wären alle Herrscher wie du, wär die Erde ein friedlicher Ort, sagt die Schwäbin.“

Er lehnte sich vor. Er musste seine gesamte Selbstbeherrschung aufbieten, um die Stimme gesenkt zu halten. „Sie will mich als Fürsprecher, weil ich ein Muttersöhnchen bin?! Weil ich sie wohl darin unterstützen würde, wie eine Glucke über dem Knaben zu kauern und alle wegzuhacken, die ihr nicht genehm sind? Sie glaubt, dass ich – oder vielmehr Ihr – sprechen werd: ‚Der Junge muss bei seiner Mutter bleiben und ihr immer gehorchen, weil sich das so gehört?’ – Oh, ich armer Mann, da mein Ruf erbärmlich ist!“

Mutter nahm seine Hand. „Ruhig, mein Stolz seit achtzehn Jahren. Ich stimme ihr vollständig darin zu, dass mein Sohn ein König ist, wie jeder sein sollte. Jedoch weiß sie nicht, dass er längst aufgehört hat, seine Mutter um ihr Urteil zu fragen, und es bevorzugt, dem Rat von Männern zu folgen.“

„Wie es auch sein muss“, zischte er wütend. „Habt Ihr mich denn vor der Botin wenigstens verteidigt, ihr gesagt, dass ich nicht von Frauen gelenkt werden kann?“

„Ich sagte nichts, was Grund zu Hoffnung oder Enttäuschung geben könnte.“

„Das ist – gut.“

„Sei mir nicht böse“, raunte Mutter sanft. „Ich habe keiner Entscheidung vorgegriffen.“

Er presste die Lippen zusammen und nickte. „Ich bin nicht auf Euch böse, das wäre ich nie. Aber auf die anderen, dass sie glauben, mich leicht wie ein Werkzeug verwenden zu können! Ich bin nicht völlig willenlos, nein!“ Er stand abrupt auf. Weil das der spähäugigen Schwäbin nicht entgangen war, schloss er seine Mutter dafür umso hingebungsvoller in die Arme, um jeglichen Verdacht, er sei verstimmt, zu zerstreuen.

Danach durchquerte er die Kemenate mit schnellen Schritten, beachtete nur Kriemhild, indem er ihr kurz zublinzelte, und rief erst an der Tür ein allgemeines „Auf bald“.

Der Zorn, bis jetzt noch mühevoll gezähmt, brodelte nun schäumend auf. Heuchlerisch rief man ihn als Schiedsrichter an, und wollte ihn über seine Mutter zum Fürsprecher formen! Die Weiber woben listig ihre Ränke, und glaubten, ihn, den unbedarften Braven, frech drin einzuspinnen!

Er sprang die paar Stufen in den Hof hinab.

An ihrem Ende stand Hagen, aufrecht und steinern, und wartete offenbar auf ihn.

„Hervorragend, dass du da bist“, sagte Gunther, „ich hätte dich ohnehin gerade herbestellt. – Hör zu, du wirst es kaum glauben können: Ich weiß jetzt, warum die Schwaben sich an mich wenden!“

Er wandte sich Richtung Hoftor und verließ die Pfalz. Während sie durch Worms’ Gassen gingen, angetrieben von Gunthers Aufregung, erzählte er auf Latein, was er eben erfahren hatte. Bürger und Gäste begrüßten sie freudig; ohne innezuhalten, wechselte Gunther dann jedes Mal ins Deutsche, sagte mit Bescheidenheit: „Habt vielen Dank“, oder „Gottes Segen, liebe Untertanin“, und fiel drauf ins empörte Latein zurück.

Hagen nahm die Glückwünsche der Leute mit huldvoller Geste hin und hörte schweigend zu.

Sie hatten schon die halbe Strecke Wegs bis zum Rheinufer zurückgelegt, als Gunther zum Ende kam. „Das denken sie also von mir!“

Fern von neugierigen Augen und Ohren nahm sich Hagen nicht länger zusammen. „Dass sich gar die Weibsbilder in die Führung des Reiches einmischen wollen! Frevelhaft und töricht! Oh, den nächsten Boten, der mit seinem Weib hier eintrifft, werd ich mit Hunden vom Hof hetzen!“

Zwei Ritter kamen von hinten angetrabt. Hagen verstummte, bevor sie nahe genug heran waren, um etwas mitzuhören. Als sie auf ihrer Höhe angelangten, riefen die Ritter ein herzliches Grüß Gott. Gunther und Hagen erwiderten es mit scheinbar ungetrübter Heiterkeit; drauf schwiegen sie, bis die beiden weit genug voraus waren.

„Doch seid unbesorgt, mein Herr“, sagte Hagen plötzlich gemäßigt, „ich weiß es wohl einzurichten, dass Ihr in Schwaben ganz nach Eurem Gutdünken richten könnt.“

Sie hatten den weißen Strand nun erreicht. Heute Nachmittag würde hier der Buhurt stattfinden; ein prächtiges Schauspiel für ein rauschendes Fest, wie es sich geziemte. Entlang des Strands, dem Ufer gegenüber, war die Tribüne errichtet worden; am nördlichen Ende des Platzes standen die bunten Zelte der großen Gästeschar. Zwölf Dutzend Fahnen, so viele wie Fürsten und Ritter erschienen waren, hingen an ihren Stangen entlang des Platzes und wiegten sich im sanften Wind nur müde und schwerfällig hin und her.

Die jungen Kerle, die allzu kampfbegierigen, hatten sich bereits heute Morgen zum Stechen verabredet, sprengten auf ihren Rössern über den Sand und brachen Lanze um Lanze. Kleine Gruppen von Zuschauern verfolgten das Treiben: Es waren hauptsächlich Niederadlige oder Ministerialen, alte Bürgersleute oder junge Bürgerstöchter, die ihre müßigen Stunden mit Begeisterung den kühnen Reitern widmeten. So gebannt waren die Scharen, dass sie ihren König und seinen Herzog nicht einmal bemerkten.

Ganz am Rande des Platzes stützten Gunther und Hagen sich auf die hölzerne Absperrung. Zehn Schritte zu ihrer Rechten kicherte und schwärmte eine Handvoll Mädchen, begleitete jede Bewegung ihrer Lieblingsritter mit ausführlichen Lobreden, und schirmte sie von der Aufmerksamkeit der anderen bestens ab.

„Ich zöge es vor, mich aus der Schwabensache herauszuhalten“, sagte Gunther. „Wenn ich nur wegen meiner angeblichen Nutzlosigkeit um Hilfe gerufen werde, erfüll ich die Erwartungen allzu gerne.“

„Gebt nichts auf das Gerede der Herzogin; ich und alle Vernünftigen kennen Eure Größe. – Doch in dieser Sache muss gehandelt werden! Uns öffnet sich eine Tür zu mehr Macht und Einfluss – Ihr müsst nur hindurchgehen.“

„Wer sich in anderer Länder Verhältnisse einmischt, spielt mit dem Feuer. Ich glaube kaum, dass uns die Schwaben als Retter empfangen werden.“

„Empfangen nicht, doch wieder verabschieden. Ich habe einen Plan, wie wir alles zum Besten Burgunds wenden können.“

Ein besonders wilder Ritter führte seinen Lanzenstoß so schwungvoll, dass der Widersacher sich nach dem Aufprall noch dreimal überschlug. Unter dem anerkennenden Gejohle der Männer fegte der Sieger zwei Runden über den Sand.

„Du meinst, dass unser Eingreifen ein gutes Ende haben würde?“, fragte Gunther verhalten.

„Natürlich, sonst würd ich’s Euch nicht raten. Wagemutige Abenteuer mit ungewissem Ausgang werd ich Euch niemals vorschlagen.“

Rechts am Rand brach Aufruhr aus, als zwei Ritter zu Fuß in Streit gerieten und sich ein paar Fauststöße versetzten.

Die Mädchenschar verfiel in Wehklagen, die Männer dagegen feuerten den Zwist bereitwillig an. Erst als einer von beiden zum Schwert griff, sprangen die anderen Kämpfer heran und trennten die Streiter.

„Ist das einer meiner Lehnsmannen? Ich erkenn ihn nicht von hier aus.“

„Ja. Richard von Silberquell.“

„Gut zu wissen, dass er ein Hitzkopf ist. – Vertraut mir, Herr, dass Ihr kein Scheitern zu befürchten braucht. Und seid unbesorgt; den Willen der Schwabenherzogin erfüllen wir nicht.“ Er lehnte sich zu Gunther und sagte ihm seinen Plan. Als Hagen geendet hatte, blickte er ihn mit füchsischer Erwartung an und zweifelte kein bisschen an sich.

Gunther seufzte. „Aber ich dachte doch, wir würden die ersten paar Jahre nur friedlich vor uns hinregieren!“

„Der Lauf der Zeit erlaubt uns niemals ein ruhiges Dahinfahren auf stillem Gewässer. Vielmehr muss ein König wie der Seefahrer die Gezeiten kennen und die Winde, zu seinem Vorteil beide nutzen, und wenn der Wind ihn zu den Küsten des Erfolges mit ihrem reichen Hafen treiben kann, dann gebieten es Voraussicht und Pflicht, die Segel zu setzen, bevor andere in den Hafen fahren.“

Vier Ritter griffen einander gleichzeitig an. Die Splitter stoben bis zu den Fahnen hoch, und einer musste gar bis zu den Bürgermädchen geflogen sein, denn eine Braunhaarige, etwas beleibtere bückte sich und rief, ihre Errungenschaft hochhaltend: „Schaut her! Ein Splitter vom schönsten Ritter!“ Die anderen wandten sich zu ihr herum, fielen verzückt in ihr Frohlocken ein – da stieß eine Blonde ein schrilles Ächzen aus und schlug die Hände vor den Mund. Die Freundinnen folgten ihrem Blick. „Der König!“, wisperten sie überlaut, „und der Herzog!“

Kurz steckten sie die Köpfe zusammen, dann kamen sie her, die mutigsten vorneweg, die verschüchterten etwas langsamer.

„Lieber König“, riefen sie durcheinander mit flirrend hohen Stimmen, „wir wollen nur sagen, dass wir Euch wirklich gernhaben!“ Ein paar verstummten, verzagt wegen Hagens eisiger Unnahbarkeit; die anderen ließen sich jedoch nicht erschüttern und setzten hinzu: „Euch auch, Herzog!“ Die Allerkühnste erklärte gar, dass sie es übermäßig freue, dass man nun statt des ganz, ganz alten einen jungen Herzog habe. Gegen Ende des Satzes ging ihr die Luft aus. Verlegen zupften die Mädchen an ihren Zöpfen, scharrten mit den Füßen und wussten auf einmal nicht weiter.

Gunther bedankte sich bei ihnen, Hagen neigte sich ritterlich.

Die Schüchternen der Gruppe waren auch die umsichtigeren, zogen die Freundinnen am Ärmel und machten schon die ersten Schritte rückwärts.

„Dann stören wir Euch nicht weiter“, sagte die beherzte Blonde, und die Schar huschte wieder zurück an ihren alten Platz. Dort verfielen sie in entzücktes Getuschel. Auch die Kämpfer und die übrigen Zuschauer hatten inzwischen erkannt, wessen Anwesenheit sie ehrte; die Ritter gaben sich darum besonders kühn und stritten umso verbissener um den Sieg.

„Ohne Eure Erlaubnis werd ich nichts beginnen“, sagte Hagen, „doch wenn Ihr es gestattet, dann werde ich Euch Ruhm gewinnen und in Eurem Namen dem Schwabenland die Eintracht zurückgeben. Bitte, lieber Herr, habt Vertrauen zu mir und lasst mich für Euch Großes tun. Ich habe den Mut, zu gehorchen, wenn Ihr den Mut habt, zu befehlen.“

Gunther schaute zur königlichen Fahne hinauf. Sie war von allen die schwerste, reich beladen mit der funkelnden Pracht ihrer Steine, und brachte der unsichtbaren Kraft des Windes am meisten Widerstand entgegen. „Doch falls es misslingt …“, flüsterte er.

„Dann trag ich die Schuld, und ich trag sie so treu, dass kein Auge es jemals wagen wird, sich anklagend auf dich zu richten.“

Gunther ließ die Schultern sinken. Deshalb hatte er ja seit Monaten danach getrachtet, Hagen Amt und Macht zu verleihen, damit er ihn leite in allen Wirrnissen der Herrschaft. Er musste seiner Führung folgen. „Es sei.“

„Ich danke Euch, mein König.“

Das nächste Kämpferpaar fand sich zur Tjoste; ein glücklicher Lanzenstoß des einen warf den andern wuchtig aus dem Sattel.

„Nicht nur das“, sagte Gunther heftig. „Außerdem reite ich heute beim Buhurt mit. – Ich will den Zweiflern zeigen, wer der Herr ist!“

Erläuterungen

Die Szene findet am Tag nach der Belehnung statt, also gleich im Anschluss an das Ende von Band 3.

Im ersten Absatz denkt Gunther darüber nach, dass er nun „wohlgewappnet“ sei für die Mühen der Herrschaft.
Dies bezieht sich natürlich auf Hagens Unterstützung, die durch die Belehnung jetzt einen „legitimen“ Status erhalten hat. Consilium et auxilium, Rat und Hilfe, waren die wichtigsten Pflichten, die ein Lehnsmann seinem Herrn schuldete. Dass Gunther auf Hagens Rat hört, ist nach mittelalterlicher Ansicht also keine Schwäche, sondern korrekte Herrschaftsführung. Allerdings war es nicht gern gesehen, wenn ein König in allen Fragen nur einem folgte. Dies ist ein Kritikpunkt, den die Fürsten im Laufe dieser Geschichte auch noch äußern werden …

„Er fasste die Lehnen des Throns mit sich’rer Hand“: Das ist eine abgewandelte Anspielung auf den Text der österreichischen Kaiserhymne, wo es heißt „Führ’ er uns mit weiser Hand“.

Die vielen Apostrophen: Wenn eine Silbe entfällt, setze ich oft einen Apostrophen. Dies kommt daher, dass ich früher sehr viele Versdramen las (oder selber schrieb) und Silbenzählen bei mir praktisch automatisch stattfindet. Tut mir leid, falls das den Lesefluss für manche hemmt. Mich reißt eine Silbe zu viel oder zu wenig immer gleich aus dem Rhythmus, darum ist mir das halt wichtig. Sorry!

„Rauschendes Fest“: Diese Formulierung erinnert mich jedes Mal an den Brautchor in „Lohengrin“, wo es heißt: „Rauschen des Festes seid nun entronnen“. Wagner-Anspielungen gibt es hier ja immer wieder.

Es war meine Absicht, die Figuren viel zwischen den Zeilen sprechen zu lassen. Vordergründig höflich – implizit ein Vorwurf, eine Mahnung usw. Inwieweit mir das gelungen ist? Keine Ahnung. Machen wir weiter!

Siegmund von Xanten: Das ist der Vater von Siegfried. Gleich zu Anfang des Epos warnt er Siegfried vor Gunther und Hagen. Also ist es vielleicht erlaubt, wenn ich ihn mit ihnen agieren lasse und zeige, wie er zu seiner Meinung über diese beiden kam.

Die nebulöse „Warnung“, die Siegmund durch seinen Boten aussprechen lässt, ist eigentlich zu subtil. Die Herausstreichung der Weisheit von Hagens Vorgänger ist vielleicht ein leichter Affront und zugleich Aufforderung, sich, modern gesagt, politisch verlässlich zu zeigen, mit Augenmaß usw. Ich schrieb das 2021 und fand das damals super.
Hagen zumindest erkennt diese Warnung. Seine sonst überwiegend höfliche Antwort enthält deshalb auch eine kleine Spitze: dass die Weisheit seinen Vater vor dem Leben verließ. Damit ist der alte Herzog, den Siegmund ihnen als nachahmenswert vorhält, in seiner Vorbildfunktion ein wenig beeinträchtigt.

Ich weiß nicht, ob es deutlich wird, aber beim Schreiben beabsichtigte ich, zu zeigen, dass Gunthers neue Selbstsicherheit sich auf die einfachen Aufgaben seines Amtes beschränkt: wenn er brav einen Gruß sagen und ungefährlichen Smalltalk machen kann. Sobald es schwieriger wird, z.B. bei den verhohlenen Warnungen des Xantener Boten, springt Hagen ein. Im Laufe des Buches wird Gunther allerdings noch etwas besser im Umgang mit schwierigen Situationen werden. Ein Virtuose der Macht wird er jedoch nie: Diese Rolle ist schon vergeben …

Graf von Sigmaringen: Ich wollte erst eine erfunde Grafschaft nehmen, doch dann entschied ich mich für das echte Sigmaringen, in dessen Landkreis ich übrigens wohne.

Burchard und Hermann von Schwaben: Es wurden ganz bewusst Namen ausgewählt, bei denen man gleich „Schwabenland“ denkt. Es gab mehrere schwäbische Herzöge dieser Namen. Ein weiterer bekannter Träger des Namens Hermann ist der Mönch Hermann der Lahme aus Altshausen, Chronist auf der Reichenau, gestorben 1054. Ich war auch schon öfter in Altshausen, einmal sogar in der Schlosskirche, wo man seine Schädelreliquie sehen kann.

Als Gunther die unwichtigen Adligen entlässt und nur die wichtigen bleiben dürfen, zählt er alle Namen der noch Anwesenden auf. Bis auf Hagen. Dass der dableibt, versteht sich für Gunther schon von selbst.

Der Streit um einen unmündigen Herrscher, den die Fürsten seiner Mutter wegnehmen wollen, ist natürlich inspiriert vom jungen Heinrich IV. und seiner Mutter Agnes.

„Wehe dem Land, dessen König – oder Herzog – ein Kind ist“: Siehe Prediger 10,16

Das Gefasel, dass ein Schwabe lernen muss, wie man sparsam sei und so weiter ist natürlich ein totales Klischee.

Hoffentlich versteht man, warum Gunther sich ärgert: Die Herzogin von Schwaben denkt, dass er sehr mit seiner Mutter verbunden sei. Sie meint, er würde deshalb sofort eingreifen, wenn jemand einen Sohn von der Mutter trennen wolle. Sie glaubt, er würde sagen: „Ich brauche meine liebe Mutter und ihre Führung; jeder andere braucht das auch. Das geht nicht an, dass einer die Schwäbin von ihrem Kind trennt!“

„… dass er es bevorzugt, dem Rat von Männern zu folgen“: Ute verwendet hier nur aus Höflichkeit den Plural. Eigentlich meint sie „dem Rat eines Mannes“.

Gunther und Hagens Gezeter über die Frauen, die sich erfrechen, in der Politik mitmischen zu wollen, ist natürlich sehr gemein. Patriarchat eben.
Ich könnte hier kurz anfügen, dass die Herrscherinnen in der Zeit der Ottonen und Salier eine mächtigere Stellung innehatten als in der Stauferzeit, erkennbar zum Beispiel an der Häufigkeit, in der sie in Urkunden als Fürsprecherin genannt werden und so. (Für später: Bitte noch irgendwann ein Buch meiner Sammlung als Quelle einfügen!) Die Worms-Welt ist von der Stauferzeit inspiriert.

„werd ich mit Hunden vom Hof hetzen“: Im Nibelungendrama von Friedrich Hebbel lässt Hagen einmal die Boten vom Hof hetzen. Der Merowingerkönig Guntram (herrschte über das Teilreich Burgund), ließ laut Gregor von Tours ebenfalls Boten unhöflich vertreiben. (Für später: Bitte noch die Quellenangabe für die Guntram-Sache anfügen!)

Grüß Gott: könnte fürs Mittelrheintal um Worms zu südlich sein. Ich fand’s trotzdem süß.

Die Fahnen mit ihren obligatorischen Edelsteinen: Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob mittelalterliche Fahnen frei hängen wie die Fahnen in den Vorgärten zur WM-Zeit, oder ob sie an einem Querbalken hängen. Vexillologin sollte man sein …

„Ich habe den Mut zu gehorchen, wenn Ihr den Mut habt zu befehlen“: Das erste Bismarck-Zitat in Worms 4! Bismarck zu Friedrich Wilhelm I.: „Ich habe den Muth zu gehorchen, wenn E.M. den haben zu befehlen“

Was sonst noch im Oktober bei mir los war

Leute, ich möchte mich kurz bei euch melden. Heute habe ich zum ersten Mal seit vier oder fünf Jahren alles, was ich mir für den Tag vorgenommen hatte, erledigen können! Das ist unglaublich! Seit Jahren habe ich immer nur akzeptieren müssen, dass mir die Kraft ausging, dass, egal, wie bescheiden das gesetzte Ziel war, ich immer scheiterte, aber heute habe ich es geschafft!

Ich hatte mir vorgenommen:

1. Am Worms-Buch 4 weiterzuschreiben
2. Notizen zu den Büchern zu machen, die ich in letzter Zeit gelesen hatte
3. Etwas zu kochen, zusammen mit meiner Mum
4. einen kurzen Blogartikel zu schreiben
5. für meine Mum Lebkuchen zum Geburtstag zu bestellen.

Also, Punkt 2 ist noch nicht ganz fertig, ich habe bei dem Buch, das ich gerade zusammenfasse, noch 50 Seiten vor mir, aber das werde ich zu Ende bringen! Unglaublich!

Morgen möchte ich nach Bad Saulgau fahren und in mehreren Läden einkaufen, das wird dann alle Energie aufbrauchen. Aber heute ist ein außergewöhnlich produktiver Tag gewesen!

Jetzt möchte ich einen kurzen Rückblick auf den Oktober geben.

Ich hatte Corona.

An der Jahreswende 2022/2023 hatte ich es zum ersten Mal. Damals konnte ich drei Wochen lang nur liegen, und meine Stimme war mindestens 3 Monate lang nicht mehr belastbar.
Dieses Jahr dauerte Corona zwei Wochen, und in der dritten geriet ich noch sofort außer Atem nach jedem Treppensteigen – wobei ich auch in Phasen der Gesundheit nicht sonderlich leistungsfähig bin, wie im Blogartikel „Unerklärliche Erschöpfung“ dargestellt. Zudem habe ich manchmal Wortfindungsstörungen, aber zum Glück nicht bei Wörtern, die ich fürs Worms-Buch oder Notizen über historische Themen brauche. Mir fallen eher Sachen wie „Flasche“ oder „Teller“ nicht mehr ein. Als Corona gerade am Höhepunkt war und ich eigentlich meine Stimme schonen sollte, habe ich meiner Mum zum Beispiel begeistert etwas von den Kiewer Rus‘ und dem Aufstieg Moskaus erzählt, mit Wörtern wie „Machtvakuum“ und „Peripherie“ usw. X-D

Und ich habe zum ersten Mal seit vier Jahren wieder das Worms-Buch gelesen. 2019 hat mir ein Verwandter mit seiner vernichtenden Kritik alles zerstört; er hat gesagt, er hätte es tausendmal besser machen können, und meine Bücher (es sind ja keine Bücher, nur Fanfiction-Zeug) seien absoluter Müll. Seitdem schäme ich mich für alles, was ich geschrieben habe.

Nun habe ich sie also wieder gelesen. Wie es mir dabei erging – das wäre doch ein Thema für einen eigenen Blogartikel …

Ich werde schon wieder erschöpft und muss zum Ende kommen, deshalb nur kurz:

Ich lese so gut wie nie Belletristik, sondern nur Fachbücher, Biographien, Autobiographien. Dieses Jahr habe ich zwei Romane gelesen, die Worms-Bücher logischerweise ausgenommen.
Zu fast jedem Buch, das ich gelesen habe, mache ich mir Notizen. Da ich im ersten Halbjahr aber nicht einmal genug Kraft hatte, um aufrecht am Tisch zu sitzen, blieben die Notizen liegen. Nun muss ich es nachholen. Ich habe schon viele erledigt, aber immer noch 23 Bücher vor mir! Heute habe ich eine Biographie über Kwame Nkrumah zusammengefasst. Dieses Jahr habe ich mich vor allem mit bedeutenden Frauen und der Dekolonialisierung Afrikas befasst.

Ich habe sogar den Wunsch, die Zusammenfassungen auf meinem Blog einzustellen, dann könnten andere Leute sie lesen. Vor allem würde sich ein Verwandter, der mir immer zu verstehen gab, dass er sich für weitaus gebildeter auf dem Feld der Geschichte hielt, obgleich er genau 0 Fachbücher besitzt, sehr ärgern, wenn er sieht, dass ich Bücher zu Personen gelesen habe, die er gar nicht kennt. Haha!

Die Kraft ist aus. Tschüssi!

War Hagen in Kriemhild verliebt?

  • Im Nibelungenlied: NEIN (sie sind verwandt)
  • In der Edda: NEIN (sie sind Geschwister)
  • In der Thidrekssaga: NEIN (sie sind Halbgeschwister)
  • Im Waltharius: NEIN (es tritt keine Kriemhild auf)
  • In den Nibelungenliedern von Färöer: NEIN (sie sind Erzfeinde über den Tod hinaus)
  • In der Götterdämmerung von Richard Wagner: NEIN (sie sind Halbgeschwister)
  • In den Dramen des 19. Jahrhunderts: NEIN
  • Im Film-Zweiteiler von Fritz Lang: NEIN
  • In der Verfilmung von Harald Reinl (mit Terence Hill als Giselher!): NEIN
  • In den Romanen des 20. und 21. Jahrhunderts: Ja, ABER nur bei manchen Autoren oder Autorinnen

Halten wir also fest: In den Sagen ist Hagen von Tronje nicht in Kriemhild verliebt.

Die Liebesgeschichte zwischen Hagen und Kriemhild ist eine Erfindung der Autoren und Autorinnen des 20. und 21. Jahrhunderts.

In anderen Romanen des 20. und 21. Jahrhunderts ist Hagen auch mal in Brünnhilde verliebt, mal in Volker von Alzey, mal in Walther, in einem Gedicht von Heinz Erhardt in Siegfried! Die Fantasie der Autoren kennt keine Grenzen.