Ein riesiger Verrat

Ich bin unglaublich schockiert. Ich lebe in einem Haus, das 1870 erbaut und nie viel renoviert wurde.
Dass bei solch einem Altbau in allen Außenecken Schimmel hereinkriechen will, wusste ich schon als kleines Kind. Früher haben meine Eltern manchmal ein Schimmelmittel aufgebracht. Aber seit die Köpfchen da sind, darf man auf keinen Fall mit solchen Mitteln gegen ihn vorgehen, da es für sie lebensbedrohlich (!) wäre. Das gilt für alle Vögel.

Und jetzt ist es passiert: Ich habe Schimmel in meiner Büchersammlung gefunden! In meinen Büchern von der Wissen-Reihe von C. H. Beck. Wer sie nicht kennt: Das sind kleine, je ca. 128 Seiten lange Bücher, geschrieben von namhaften Lehrstuhlinhaberinnen und Lehrstuhlinhabern zu verschiedenen Themen. Die meisten Bücher dieser Reihe widmen sich Themen der Geschichte, es gibt aber auch andere Gebiete, die behandelt werden, z. B. Musik, Kunst, Psychologie und Medizin.

Ich hatte ungefähr 120 Bücher dieser Reihe. Sie waren der Stolz meiner Sammlung, ich hatte sie so lieb! Alle C.H.Beck-Wissen-Bücher haben verschiedenfarbige Cover, sodass sie einen wunderschönen bunten Reigen bilden. Ich hatte zwei ganze Regalbretter voll und freute mich jedes Mal, wenn ich sie anschaute.

Und jetzt habe ich an vier von ihnen Schimmel entdeckt!!!! Es ist so gemein! Hinten am Buchblock. Ein paar andere haben verdächtig aussehende Stockflecken.

Sie standen in einem Regal von Ikea. Mein Bruder hatte das gekauft, als er noch in diesem Zimmer wohnte, und später habe ich es okkupiert. (Er hat es aber erlaubt.) Leider stand das Regal an einer Außenwand, aber da stand es schon, als mein Bruder es dort aufstellte, und seinen Büchern ging es jahrelang gut darin.
2020 sind dann meine Bücher dort eingezogen, oder 2021. Und jetzt das!!!

Ich fühle mich verraten! Meine Bücher sind meine Freunde, meine Schätze, eines der ganz wenigen Dinge auf der Welt, die ich noch haben durfte! Mir ist im Laufe meines Lebens schon so viel genommen worden:

As I have sometimes hinted at, I had a very traumatic childhood.

Von meinen Großeltern weiß ich nichts, als dass sie gestorben sind. Andere Erinnerungen habe ich nicht mehr an sie, bis auf eine Oma, die später, als ich erwachsen war, vor meinen Augen einen Schlaganfall erlitt, an dem sie drei Tage später sterben würde.

Ich wollte immer Geschichte studieren, aber diesen Traum hat mir eine Person, die ich stets verehrt hatte, gnadenlos zertrampelt.

Ich habe einen Beruf gelernt und habe in einem Unternehmen gearbeitet, aber wurde zwei Jahre lang gemobbt, bis ich kündigte. Seitdem kann ich nicht mehr mit Menschen arbeiten. Bei jeder Interaktion fange ich an zu weinen.

Mein Schwarzköpfchen Fritz ist 2017 ganz plötzlich gestorben. Er war mein Seelenverwandter, ich hatte ihn so lieb. Er wurde nur zwei Jahre alt. Ich vermisse ihn so sehr. Er war Lilis erstes Männchen.

Ich habe eine chronische Krankheit, die dazu führt, dass mich alles über die Maßen anstrengt. Selbst wenn ich nur für eine Stunde meinen Bruder und seine Freundin besuche, muss ich mich danach den Rest des Tages ins Bett legen. Selbst nach so einfachen Sachen wie Haarewaschen muss ich mich zwei Stunden lang erholen!

Früher konnte ich täglich eine Stunde Sport machen. Das geht nicht mehr.

Früher liebte ich es, Sprachen zu lernen, um Bücher zu lesen. Das geht nicht mehr.

Früher habe ich mich geschminkt und schön angezogen, weil mir das Freude machte. Geht nicht mehr, zu anstrengend. Zum Im-Bett-Liegen braucht man keinen Eyeshadow.

Früher fuhr ich zu Opern, alleine, Götterdämmerung natürlich. Das wird nie wieder passieren. Zu anstrengend.

Meine Freundinnen habe ich alle aus den Augen verloren, außer meiner besten, das ist natürlich Lili. Mit den introvertierten Freundinnen ging es leise auseinander, weil ich auch introvertiert bin und keine von uns der anderen lästig fallen wollte. Dann blieben nur die extrovertierten Freundinnen übrig, und die waren zwar anstrengend, aber schon lieb, bis Corona kam. Wegen des Mangels an Gesellschaft klammerten sie sich an mich und wurden zu selbstbezogenen Laberautomaten. Nachdem man mich (mehrmals!) zwei Stunden lang pausenlos von sich selber vollgefaselt hatte, ohne mich zu fragen, wie es eigentlich mir ginge, hatte ich keine Kraft mehr, diese Freundschaften weiterzuführen.

Meine Lehrer sagten früher immer, ich erinnere sie an Rory Gilmore und an Lisa Simpson. Wenn sie mich heute fragen würden, was ich mache, wisst ihr, was ich sagen müsste? Dass ich Dichtungsringe zähle. Das ist meine Arbeit.

Ich wollte immer Bücher schreiben, aber diesen Traum hat mir mein Bruder C zertrampelt.

Seit 2019 habe ich Depressionen.

Vielleicht habe ich Zwangsstörungen, keine Ahnung, es gibt keine psychische Versorgung hier auf dem Land. Ich zähle nicht mit, wie oft ich mir am Tag die Hände wasche, oft mehrmals hintereinander. Ich muss auch minutenlang kontrollieren, ob der Herd aus und die Fenster zu sind. Nachts stehe ich oft dreimal wieder auf und schaue, ob die Fenster wirklich geschlossen sind. Das geht bis um halb zwei.

Eines der wenigen Dinge, die ich noch hatte, waren meine Bücher.

Es sind schon einige, definitiv mehr als 1000, aber ich bin zu erschöpft zum Zählen.

Und jetzt schimmeln sie! Es fühlt sich an, als hätten sie mich verraten, oder das Schicksal. Das miserable Raumklima wird auch den anderen zusetzen; es ist nur noch eine Frage der Zeit.

Ich darf nichts Schönes haben, ich darf nichts Nettes für mich haben. Mir muss alles genommen werden. Ich darf mich an nichts freuen.

Und natürlich gibt es so viele Menschen, denen es schlimmer geht. Ich denke jeden Tag an die anderen überall auf der Welt. Jede Nacht denke ich an die Verbrecher überall und was sie ihren Opfern antun, und an die Unterdrückerregime und die notleidenden Leute. Ich hasse die bösen Menschen auf der Welt.

ABER: Hier im Industrieland Deutschland geht es vielen Menschen ausnehmend gut. Natürlich gibt es auch hier Krankheiten, Unfälle, Leid. Doch allen um mich herum geht es blendend! Das ist ja auch schön für sie, und die meisten sind nette Leute. Alle sind gesund, reich, fit, haben Zeit für Hobbys, haben Kraft, irgendwelche sinnlosen Aufgaben zu beginnen. Mir ist nur eine Person bekannt, die seit Jahren bloß Pech hat. Das setzt einem auch zu, wenn man der einzige Loser in einer Riege von Stars ist.

Und jetzt gehen meine Bücher zugrunde. Ich hatte mir so sehr gewünscht, dass ich sterbe, bevor alles verschimmelt. Ich hatte sterben wollen, bevor alles, was mir noch ein Körnchen Freude brachte, kaputt ist. Es hätte doch gereicht, wenn man die Bücher nach meinem Tod wegwirft. Jetzt werde ich auch noch meine Büchersammlung aufgeben müssen.

Das Schicksal ist erst zufrieden, wenn es mir alles genommen hat.