Der Mensch, den ich bewunderte, dem ich dann sieben Jahre lang gram war und den ich jetzt wiedergefunden habe

Die meisten Menschen, die ich bewundere, sind schon lange tot. In der erlesenen Riege der wenigen Lebenden befinden sich YouTuberinnen, Lehrer, Opernsänger, Shakespeare- und Superschurkenschauspieler, ehemalige Schulkameradinnen, schwäbische Hausfrauen und Nachbarinnen, und Testleserinnen.
Und dann gab es da noch den Papst.

Bei seinem Amtsantritt 2005 war mir Kardinal Joseph Ratzinger kaum bekannt. 2005 war für mich das Jahr, in dem ich die große Literatur entdeckte, in dem ich zum ersten Mal Goethe, Schiller, Cervantes, Homer und Shakespeare las und zum zweiten Mal das Nibelungenlied. 2004/5 machte ich zum ersten Mal zaghafte, arglose und erstaunte Ausflüge in die Welt der Weltgeschichte.

Das Leiden und Sterben des Papstes Johannes Paul II. habe ich in den Medien verfolgt wie so viele andere auch. Ich war traurig über seinen Tod und ergriffen von der Würde der Zeremonien, die der Größe dieses seit 2000 Jahren bestehenden Amtes vor aller Augen Ehre zollten.
(Dass ebender Papst Johannes Paul II. viele Traditionen aufgehoben oder abgeändert hat, findet in der Retrospektive nicht unbedingt meinen Beifall. Vor allem das „Sic transit gloria mundi“ ist doch ein Ritual, das weise und wahr ist wie kein anderes.)

Und dann wurde ein Deutscher zum Papst gewählt. Ich war stolz und begeistert wie alle anderen auch, war auch erstaunt, dass die Tagesschau dem Papst fast die ganze Viertelstunde ihrer Sendezeit widmete (oder gar noch mehr? Ich glaube, sie haben damals überzogen. Für den Tod von Johannes Paul II. haben sie, wenn ich mich recht entsinne, auch schon 11 Minuten verwendet, für Benedikts Wahl aber noch mehr.)
„Ich bin nur ein demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn.“ Damit waren meine Mutter und ich schon vom neuen Papst überzeugt. Ich bin noch vom alten Schlag, ich liebe Demut mehr als Großtuerei, ich liebe den leise sprechenden Weisen mehr als die Scharen, die nur schreien, um ihr Unwissen zu übertönen.
Es freute mich, dass die Bild-Zeitung „Wir sind Papst“ titelte; es freute mich, dass die Begeisterung viele erfasste.

Vor allem aber war der Investiturstreit damals das erste historische Thema, mit dem ich mich richtig eingehend beschäftigte. (Nur die Geschichte der Burgunder kam noch früher, konnte aber wegen der geringen Anzahl dazu existierender Bücher nicht so vertieft werden, wie ich wollte.) Der Investiturstreit! Bis heute ist er ein Stück geistige Heimat für mich, seit damals gehören seine Protagonisten zu meinen historischen Lieblingspersonen ersten Ranges, und da er solch ein komplexes und anspruchsvolles Thema ist, habe ich es auch ihm zu verdanken, dass ich lernte, wie man sich in historische Themen eingraben muss, wenn man sie richtig (oder im Falle mangelnder Brillanz wie bei mir wenigstens annähernd) verstehen will.
Insgeheim habe ich gehofft, dass Joseph Ratzinger den Namen Gregor annimmt.

Ich hatte über Jahre sogar ein Papstposter an der Wand hängen. Es zeigte den Moment, als er zum ersten Mal auf den Balkon trat und mit ausgestreckten Armen die Stadt und den Erdkreis grüßte.
Das Poster stammte nicht von der Bravo (wie krass, dass sogar dieses Heftchen dem Papst ein Poster widmete. Ich für meinen Teil habe dieses Magazin nie gekauft.), sondern aus einem Geschichtsmagazin, einem ganz sonderbaren. Aus Anlass der Wahl Benedikts widmete es sich der Geschichte der Päpste. Es gehörte zu keinem bekannten Verlag, es schien von Inhalt und Aufmachung her völlig selbstgemacht und besaß wohl gerade drum den rührenden Charme des Sich-Bemühens. (Viel, viel Fehlerhaftes stand darin. Das Lustigste: An einer Stelle wurde doch tatsächlich der Begriff „Antipapst“ verwendet. Interessierte wissen, dass es in deutscher Sprache Gegenpapst heißen muss.) Aber ich glaube, das Heftchen kürte Gregor VII. zum wichtigsten Papst von allen, und deshalb sah ich über die vielen Fehler hinweg.

Da hing also das Poster jahrelang an herausragender Stelle. Eine Schulfreundin, die nicht wusste, worüber sie ihren Prüfungsvortrag machen soll, ermunterte ich, den Papst als Thema zu wählen. Ich lieh ihr auch meine Ratzinger-Autobiographie aus. Leider kam das Buch mit eingestoßener Kante zurück 🙁 Ihr Plakat für den Vortrag überließ sie am Ende mir. 🙂
Eine Schulkameradin, die den Papst auf dem Weltjugendtag gesehen hatte, schenkte mir ein Buch über den Papst in Deutschland. Außerdem kaufte ich einen Glasanhänger mit einem Bildchen von ihm, diverse Kalender, Bücher von ihm, z.B. den ersten Band seiner Jesus-Trilogie für meine Mutter usw.
Wir wollten ihm immer einen Brief schreiben, trauten uns aber nicht.
Seine Autobiographie bekam einen Ehrenplatz in der Vitrine bei den Biographien über einen Deutschen Kaiser.
Zur Recherche fürs Worms-Buch suchte ich nach Literatur über den Heiligen Augustinus, den ich der Hauptfigur als Lieblingsheiligen zugeordnet hatte, und kaufte ein Buch über Kirchenväter von Benedikt höchstselbst. Es hat mich sehr gefreut, dass Augustinus auch der Lieblingsheilige von Benedikt ist!
Ich fand einmal im Buchladen in einer großen Stadt (Ravensburg oder Ulm, oder etwa Stuttgart?) sogar ein Papstquartett, mit Benedikt auf dem Titelbild.

Und dann 2013 der Rücktritt. Ich erfuhr davon von einem Papsthasser am 11. Februar. Am Vortag war ich zum ersten Mal in einer Götterdämmerung gewesen, war dementsprechend noch selig, auch leicht nervenschwach und hatte vielleicht einen leichten Gehörschaden erlitten. Ich war so beleidigt, enttäuscht und wütend! Wie konnte der Papst zurücktreten, wie konnte er nur! „Gregor VII. ist nie zurückgetreten“, war mein Argument; Gregor VII. sah sich einem ganz anderen Gegner gegenüber und hielt aus bis zum Ende! „Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und die Ungerechtigkeit gehasst, und deshalb sterbe ich in der Verdammung!“ So war sein letzter Satz! – Petrus höchstselbst, und all die anderen Märtyrerpäpste, keiner trat zurück! Schaut doch Pius IX. an, der hatte Bismarck, den klügsten aller Menschen, als Feind, und musste erleben, wie der letzte Rest des Kirchenstaats zugrunde ging! Auch der hielt aus, alle hielten aus, bis ihr Herr sie abberief! (Außer Coelestin, dem Himmelspapst, jaja; der war mir schon gleich unsympathisch.) Meine Güte, selbst Kaiser können zurücktreten, wenn die Kräfte schwinden, und ich nehme es ihnen nicht übel (Karl V.), aber ein Papst sollte das nicht tun! Ich wollte das nicht! Muss denn in dieser modernen Welt alles Althergebrachte niedersinken? Gibt es denn nichts, das immer fest bleibt, unerschütterlich ist? Zu Zeiten vom Investiturstreit hätte es das nicht gegeben, nein!

Und seit diesem Tag war ich beleidigt mit Papst Benedikt. Da war es klar, dass, meiner infantilen Reaktion gemäß, auch der Nachfolger nicht meinen Beifall finden konnte, ganz egal, wer es war. (Und dann gab sich Jorge Bergoglio auch noch den Namen „Franziskus“, den vorher kein Papst getragen hatte. Ihr könnt euch meine Beschwerde denken: Will sich denn niemand mehr Gregor nennen? Oder immerhin Innozenz, wie Innozenz III.? Oder Paschalis oder Callixt?)

Ich hängte das Papst-Poster ab, ich verschenkte die Papst-Memorabilien (an meine Mum, in deren Haus ich wohne), ich vergaß, dass ich Bücher vom Papst besaß, ich schnitt keine Zeitungsartikel über den emeritierten Papst mehr aus, und nur das Papst-Quartett fiel nicht in Ungnade, da auch Gregor VII. und viele andere dabeiwaren.

An der Wand, die sein Poster trug, hängen jetzt Bilder von einem Kaiser mit der Ordinalzahl II., einem Halsbandsittich und Burg Hohenzollern.

Mein Schmollen hielt ich sieben Jahre lang durch. Was Franziskus machte, kümmerte mich nicht.

2020 kam die große Biographie von Peter Seewald heraus. 1100 Seiten, 38 Euro. Was mich amüsierte, war, dass die Biographie genausoviel kostet wie Volker Reinhardts Buch über alle Päpste. Alle zum Preis von einem oder einer zum Preis von allen! Sage mir, welches du kaufst, und ich sage dir, wie sparsam du bist.
Und weil ich in diesen sieben Jahren viel Schweres durchmachen musste; weil mich viele Anfeindungen von allen Seiten trafen; weil ich am liebsten auch der Welt entschwinden würde in ein Land des Geistes, fand der alte Mann, dem so viel Gegenwind entgegengeschlagen war, wieder meine Sympathie. Nicht jeder ist ein Gregor – nicht jeder muss ein Gregor sein. Und überhaupt, wer weiß, wann es wieder einen deutschen Papst gibt? Da ist ein Mensch, von dem einst in tausend Jahren die jungen Frauen lesen werden wie ich vor so langer Zeit von meinen Investiturstreitspäpsten, und wie die Zeitgenossen von Gregor, Paschalis, Calixt könnte jetzt ich sagen: Ich habe ihn erlebt.
Da fasste ich den Entschluss, dass ich dem Papst noch einen Brief schreiben möchte, wie meine Mutter es sich immer noch wünschte.

Und ich nahm meine teuerste Tinte, Herbin mit den echten Goldstückchen, ich recherchierte, wie man den Papst anredet, und ich bin rettungslos fasziniert von Würden und Größe; dass ich zum ersten Mal einen Menschen mit einem Ehrentitel anschreiben konnte, hat mich begeistert wie wohl wenige sonst. (Die meisten finden das sicher blöd. Aber euch sag ich mit Bismarcks Worten: „Das ist mir wurscht!“)
„Euer Heiligkeit“ oder „Heiliger Vater“ kann man verwenden; am liebsten wünscht er sich aber „Vater Benedikt“.
Doch was ich schrieb, das ist geheim; nur eines verrat ich euch: Ich habe auch den Investiturstreit erwähnt.
Das war am 19. April, auch noch genau 15 Jahre nach seiner Wahl, am Namenstag von Leo IX., dem Papst, den Heinrich III. in Worms zum Papst bestimmt hat. Die Welt ist so klein.

Nach einem Monat bekam ich Post vom Vatikan. Damit dauert die Bearbeitung eines Schreibens an den emeritierten Papst so lange wie die Beantwortung einer E-Mail an L. V. …
Es waren nicht nur eines, sondern zwei Fotos drin, eines für mich und eines für meine Mum. Und ein Heftchen mit Predigten aus Österreich. Und ein Brief, von dem ich vermute, dass der Papst ihn wahrhaftig unterschrieben hat.

Und seit ich mich wieder versöhnt habe, habe ich die Papst-Memorabilien zurückgeholt, habe staunend festgestellt, dass ich Bücher vom Papst besitze, habe die Reinhardt-Biographie über alle Päpste bestellt, und die Biographie über Benedikt auch (und ich nahm sogar Prime in Anspruch, damit das Buch gleich am nächsten Tag kam; dann war es aber leider verkratzt und musste zurückgeschickt werden, sodass ich auf ein neues warten musste).
Außerdem brauche ich Ersatz für mein Papst-Poster, das ich bestimmt behalten habe, denn ich behalte alles, aber nicht mehr wiederfinden kann.

Im tiefsten Innern bin ich ein einsamer Mensch. Obzwar ich es vorziehe, die meiste Zeit alleine zu verbringen, fern von der echten Welt, in Büchern, in gedanklichen Disputen mit erfundenen Kontrahenten; obgleich ich aus einem Buch, das mich herausfordert oder gar überfordert, mehr Energie und Freude gewinne als aus dem Treffen mit Menschen, ist es schade, wenn man kaum jemanden hat, mit dem man teilen kann, was einen umtreibt. Nur meine Mum hört alles an und versteht alles! Aber alle andern Leute, die ich kenne, sind so sehr in der echten Welt verhaftet, dass die Realität früherer Zeiten für sie nutzlos und unecht scheint; dass das „Selber-der-Wichtigste-sein-Wollen“ für sie wichtiger ist als die Frage, was richtig und wahr ist. Gemütlichkeit und Gelächter statt Kriegsschuldfrage und Niedergangstheorien; sie suchen den Sonnenschein statt den Leidgeplagten ein Ohr zu leihn, sie leben fröhlich vor sich hin, und wer nicht fröhlich ist, der passt nicht zu ihrer lichten Welt.
Nur wenigen Menschen fühle ich mich so ähnlich wie dem Papst. Natürlich kann ich ihm geistig nicht das Wasser reichen, nicht im Geringsten, aber seine Zartheit, sein zurückhaltendes Wesen, das mit Büchern allein glücklich ist, seine tiefen Emotionen – all das sehe ich auch in mir. Er war einmal beim Tannhäuser auf dem Grünen Hügel! Und vorher las ich in einem alten Interview mit seinem Bruder, dass Joseph einmal ganz fröhlich von Loriots Wagner-Ring-Erzählung berichtet hat! Er kennt auch noch den Ring, und wenn er explizit „fröhlich“ davon erzählte, dann heißt das, dass ihm der echte Ring auch gefällt!!!!
Wie oft er in „Aus meinem Leben“ die Wörter „liebenswürdig“ oder „liebenswert“ verwendet, und sogar das heutzutage fast schon ausgestorbene „liebgewonnen“! Diese Fähigkeit, in Demut zu bewundern, dieses Bedürfnis nach Gehalt und Würde – das vermisse ich heutzutage, da alles demontiert werden soll, da alles quäken, knallen und lärmen soll. Im Übrigen verrate ich nicht, ob ich wirklich gläubig bin, oder ob ich meinem schwärmerischen Naturell gemäß in der Kirche nur eine Spiegelung meiner Sehnsucht nach dem Alten, Wahren, Guten, Monarchischen, Liebenden, Vollendeten, Schönen sehe.

Den Kirchenvater Augustinus bezeichnet der Papst als „seinen Meister“, sieht ihn als Lehrer und Freund, bei dem er nicht spürt, dass sie 1600 Jahre voneinander trennen. (28. August 430) Genauso geht es mir mit meinen Idolen auch! Diese Verbundenheit mit Menschen, die vor hunderten von Jahren lebten, und die man nur nachvollziehen kann, wenn man sie selber gespürt hat! (Oder wenn man meine Mutter ist, die dieses Phänomen aus langjähriger Beobachtung kennt.)

„Heimat des Herzens“ hat der Papst einmal geschrieben und meinte damit das beschauliche Bayern seiner Kindheit; Augustinus ist seine „geistige Heimat“. Dieses Gefühl des Zuhauseseins, das man nur bei bestimmten Geistesdingen verspürt – auch das kenne ich allzugut.

Dem Papst gebührt ein Platz in der ersten Riege meiner historischen Lieblingspersönlichkeiten. (Innerhalb der Riege gibt es keine Rangordnung.)
In der Riege meiner historischen Idole gibt es Kämpfertypen, kühle Denker, vielbegabte Kaiser, bescheidene Zauderer, stolze Kaiserinnen, treuliebende Fürstinnen, freundliche Brüder, ermattete Herrscher, unbekannte Dichter, das größte politische und das größte künstlerische Genie, eine ganze Schar unglückseliger Könige – doch gab es bisher keinen zartfühlenden, sensiblen Geistesmenschen, der am liebsten in der Welt der Gedanken geblieben wäre. Vermutlich ist mir der Papst charakterlich ähnlicher als alle anderen meiner Idole.
Und im Gegensatz zu all meinen lebenden Bekannten (außer Mum, die auch mitreden kann) könnte ich mich mit ihm über den Investiturstreit unterhalten.

Entschuldigung, lieber Vater Benedikt. Sieben Jahre lang habe ich Sie verkannt. Jetzt kenne ich Sie.