Historische Romane, Fantasy und Wörter

Die Merowingerkönigin Brunichild wurde 613 hingerichtet, indem man sie an die Hufe eines Pferdes band und das Pferd losgaloppieren ließ, sodass sie zwischen den Hufen zerrissen wurde. War dieser Tod sadistisch? Ja und Nein. Im Frühmittelalter gab es keine Sadisten. Dieses Wort geht nämlich zurück auf Marquis de Sade, einen Zeitgenossen der französischen Revolution. – Wir heutigen Menschen können diesen Tod der Merowingerkönigin (sie war übrigens schon Urgroßmutter) sehr wohl als sadistisch bezeichnen – verwendet jedoch eine Figur in einem historischen Roman dieses Wort, dann fällt das zumindest den Etymologie-Fans unter den Lesern negativ auf.

Ein historischer Roman oder ein Fantasyroman hat ständig mit solchen Fallstricken zu kämpfen: Alle Wörter haben eine Herkunft, und so manches aparte, scheinbar alte Wort entpuppt sich als Produkt der Neuzeit, oder entstammt einer Kultur, die in die Fantasywelt so gar nicht hineinpasst, oder ist von einem Eigennamen abgeleitet.
Autorinnen historischer Romane wollen nach Authentizität streben, und Fantasyautorinnen nach in sich stimmigen Welten. Die Schwierigkeit besteht darin, die anachronistischen, unpassenden Wörter zu erkennen – eine Aufgabe, die wohl ein einzelner Autor kaum bewältigen kann, es sei denn, er ist hauptberuflich Etymologe. Und so manches Wort, das schon früher verwendet wurde, hatte eine völlig andere Bedeutung. Das Beispiel aller Beispiele: Goethes Faust bezeichnet Gretchen als „Dirne“. Dieses Wort, das schon im Althochdeutschen gebräuchlich war, hieß jahrhundertelang nichts anderes als „Dienerin, Jungfrau, junges Mädchen“. Daher auch das Dirndl.

Es folgt eine Liste mit Wörtern, die eine interessante Herkunft haben. Die Liste basiert auf keinem ausgefeilten Prinzip; ich habe einfach die Wörter aufgeführt, die mir einfielen. (Ich wollte früher übrigens Etymologie studieren, bevor ich meine Passion für Geschichte entdeckte.)

ausmerzen – eigentlich müsste dieses Wort „ausmärzen“ heißen, aber das ging den Leuten von der Rechtschreibreform wohl durch die Lappen. Im März werden viele Lämmchen geboren; die schwachen und kränklichen Lämmchen wurden gleich geschlachtet.
Nun stellt sich gerade Fantasyautoren die Frage: Kann man etwas ausmerzen, wenn man keinen März hat? Vermutlich werden sich die wenigsten Leser daran stoßen.

zermartern – abgeleitet von Märtyrer, auch Martyrer, griech. „Blutzeuge“
Kann man sich zermartern, wenn es keine Christen gibt?

Die Wochentage – Machen wir es kurz und schmerzlos: Dienstag kommt von Tiu, dem nordischen Gott des Krieges, Donnerstag von Donar, bzw. Thor, bzw. einem super Film, Freitag von Frija bzw. Frigg, der Gattin Odins. Im Englischen verhält es sich ähnlich, hier ist zusätzlich der Wednesday der Tag Wodans.
Kann man in einer Fantasywelt von Freitag sprechen, oder zeugt das von schlechtem Weltenbau?

fechten – das bezeichnete einst jede Art von Kampf. In diesem Sinne ist das „Gefecht“ des 19. Jahrhunderts mit Schusswaffen usw. etymologisch völlig korrekt.

Kaiser – „Der Kaiser ist fürwahr ein schneidiger Mann!“ Das Wort leitet sich ab von keinem geringeren als Caesar, was „der aus dem Mutterleib Geschnittene“ bedeutet. „Zäsur“ und „Zar“ sind ebenfalls damit verwandt.

Boykott – benannt nach einem irischen Grundstücksverwalter

Litfaßsäule – benannt nach ihrem Erfinder

Lärm – aus ital. all’arme „Zu den Waffen“. Erst im Spätmittelalter/in der frühen Neuzeit als „Alarm“ und später „Lärm“ in die deutsche Sprache eingegangen.
Ich habe mich entschieden, in meinen Romanen, die im Mittelalter spielen, trotzdem das Wort „Lärm“ zu verwenden. Das aus dem Mittelhochdeutschen stammende „Getöse“ alleine reicht einfach nicht aus.

Lukullisch – im 18. Jh. gebildet; bezieht sich auf den römischen Feinschmecker Lucullus

Dolch – natürlich gab es im Mittelalter Dolche, das Wort wird jedoch erst seit dem 15. Jahrhundert verwendet und wurde wohl über das Lateinische aus dem Griechischen entlehnt.
Ich habe mich entschieden, in meinen Mittelalterromanen trotzdem das Wort „Dolch“ zu verwenden.

drakonisch – benannt nach dem alten Griechen Drakon, der für Athen Gesetze mit harten Strafen erließ

Emanzipation – aus lat. „emancipatio“ (Freilassung des Sohnes aus der väterlichen Vormundschaft)

Sklave – verwandt mit Slawe, weil zur Entstehungszeit des Wortes die meisten Sklaven Slawen waren

Muskeln – aus dem Lateinischen entlehnt am Anfang des 18. Jh. Musculus heißt eigentlich Mäuschen, weil die Bewegungen der Muskeln eines kräftigen Armes einer umherhuschenden Maus ähnlich sind.

Nerv – aus dem Lat. entlehnt am Anfang des 16. Jahrhunderts. Im Mittelalter wurden die Nerven für Sehnen gehalten und als solche bezeichnet. Auch Seil und Saite sind etymologisch mit Sehne verwandt.

Martialisch – abgeleitet von Mars, dem Kriegsgott

Steppe – Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem Russischen entlehnt

Dollar – abgeleitet vom Taler

Figur – war schon im Mittelhochdeutschen im Gebrauch im Sinne von „plastische Darstellung“, wie auch „Gestalt, Erscheinung“

Schal – aus dem Persischen; wurde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts „Shawl“ geschrieben

schal – das Adjektiv im Sinne von „fade“ ist erst ab dem 14. Jahrhundert im Mitteldeutschen im Gebrauch
(Trotzdem verwende ich es für einen Roman, der um 1180 spielt. Man sieht: Fast jedes Wort könnte man hinterfragen.)

faseln – erst ab dem 17. Jh. bezeugt. Früher hat man wohl nur Vernünftiges geredet.

fesch – entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts aus engl. „fashionable“

Gruppe – Anfang des 18. Jahrhunderts im Deutschen verwendet (Übernahme aus dem Französischen). Eventuell geht das Wort jedoch auf ein germanisches Wort zurück.
Für Pedanten: Keine Gruppen im Mittelalter!

hold – Die holde Maid hat im Mittelalter eigentlich nichts zu suchen. „Hold“ wird erst seit dem 18. Jh. als Synonym für „lieblich, anmutig“ verwendet. Davor war es ein richtig schönes Feudalismus-Wort und bezeichnete das Verhältnis zwischen Lehnsherr und Lehnsmann. Einerseits hieß es „gnädig, geneigt“, andererseits „treu ergeben“. Vgl. „jemandem hold sein“
Auf die Formulierung „Mein holder Lehnsmann“ wird man in meinen Büchern jedoch vergeblich warten. Die meisten Leser würden an dieser Stelle stutzen und viel zu viel hineininterpretieren …

ach herrje – Verkürzung von „Herr Jesu“. In Welten, die Jesus nicht kennen, müsste man sich andere Ausrufe ausdenken.

Wallach – kam im 15. Jh. in den deutschen Sprachraum mit der Bedeutung „verschnittener Hengst aus der Walachei“. Der Name der Walachei wiederum basiert auf dem slaw. Wort für romanische Länder.
Auch schon die Hunnen hatten wahrscheinlich Wallache. Wenn man einen Hunnen auf einem Wallach reiten lässt, ist das dann ein Fehler?

hübsch – abgeleitet von Hof, höfisch usw. und hieß ursprünglich „gesittet, edel, wie bei Hofe“
Eine hübsche Bauernmagd würde im Hochmittelalter niemand hübsch nennen, aber einen alten Ritter, der mit tadellosen Umgangsformen mit den Damen tändelt.

Kavalier – Eine Gesellschaft, die keine edle Reiterkriegerschicht kennt, kennt auch keine Kavaliere.

Waffenmeister – Nicht etwa der Typ, der die Schwerter poliert, sondern der Geschützgießer. Wurde auch verwendet, um den Mann zu bezeichnen, der die Geschütze in Stand hält und das Pulver mischt. – In so vielen Nacherzählungen des Nibelungenlieds ist entweder der alte Hildebrand oder Hagen oder es sind gleich beide Waffenmeister … Genau. Und Luther stellte seine 95 Thesen ins Internet. (In „Dietrich von Bern“ ist der alte Hildebrand nie Waffenmeister; den Titel „Meister“ habe ich ihm aber belassen, im Sinne von „Meister des Schwertkampfes, oder des Meckerns“)

Hexe – abgeleitet von Hag (Dorngebüsch, Zaun). Nach germanischer Vorstellung reitet eine Hexe auf einem Zaun. Verwandt mit Hecke, Gehege, hegen und engl. hedge.

Kapelle – abgeleitet von lat. Cappa, Capella (Kapuzenmantel). Und wenn es um Kirchen und Mäntel geht, wissen alle Bescheid: Am Anfang dieses Begriffes steht St. Martin, der Bischof von Tours, der vor Amiens so gütig den Mantel teilte. Über seinem Mantel wurde ein Gebäude errichtet zur Verehrung der Capella, und so kam dieser Begriff in die Welt.

Frau und Weib – „Weib“ war die wertungsfreie Bezeichnung für den weiblichen Menschen, hatte also die Bedeutung inne, die heutzutage „Frau“ hat; „Frouwe“ war die adlige Frau.
Wenn man als Autor jede Bäuerin als Weib bezeichnet, wirkt die perspektivtragende Figur auf die heutigen Leser unsympathischer, als sie in Wirklichkeit ist. Darf man guten Gewissens das Wort „Frau“ mit der Bedeutung, die es für uns heute hat, ins Hochmittelalter versetzen?

bezirzen – von Kirke, der Zauberin und Femme fatale aus der Odyssee

Milde – Im Mittelhochdeutschen bezeichnete „Milte“ die Freigebigkeit. Darum baten Bettler um eine „milde Gabe“ – es durfte also schon ein bisserl mehr sein.
Lange habe ich darüber nachgegrübelt, ob ich in meinen Büchern, die im Mittelalter spielen, das Wort „mild“ im mittelhochdeutschen oder im neuhochdeutschen Sinne verwenden soll. Ganz entschieden habe ich mich noch immer nicht.

feige – althochdeutsch „zum Tode bestimmt, dem Tode nahe“, mhd. „zum Tode bestimmt, verwünscht, eingeschüchtert“
Man vergleich die zweimalige Verwendung dieses Wortes im Nibelungenlied.

blöd – mhd. „gebrechlich, zart, zaghaft“; der Bedeutungswandel zu „dumm, doof“ erfolgte erst im 16. Jahrhundert. Das sagt viel darüber aus, wie schüchterne Menschen von ihrer Umgebung wahrgenommen werden.

Was sagt uns das nun? Wie soll ein Autor verfahren, wenn er in seinem Manuskript auf ein Wort stößt, das für die Epoche seines Romans noch nicht belegt ist? Wie viel Authentizität fordern die Leser?

Eine korrekte Antwort lässt sich darauf wohl nicht finden. Während die Mehrheit der Leser sich wohl daran stoßen, wenn die Ritter im Mittelalter „trainieren“, werden die wenigsten sich darüber ärgern, wenn jemand eine Anekdote erzählt. Dabei gelangte dieses Wort erst im 18. Jahrhundert über den Umweg über Französisch in den deutschen Sprachgebrauch. Zu viel Authentizität kann wiederum wie ein Fehler wirken: Im 19. Jahrhundert forderte man sich zum Duell „auf“ Pistolen. Moderne Leser mutet das wiederum merkwürdig an. „Bube“ war früher ein Synonym für „Schurke“ – diese Bedeutung ist inzwischen verlorengegangen, und unsere heutigen Leser würden diesen Begriff nicht als Schimpfwort erkennen. Einen herausragenden Kämpfer nannte man im Mittelhochdeutschen gerne „Degen“ – mancher Leser würde sich vielleicht ärgern über die Unkenntnis der Autorin, die meint, die dünne Waffe namens Degen hätte man schon im Hochmittelalter gekannt.

Streber könnten ihrem Roman eine Liste anachronistischer Wörter anfügen. Das würde aber vermutlich niemanden interessieren und hülfe nur gegen das schlechte Gewissen. Schlussendlich muss jede Autorin selbst bestimmen, wie sehr sie sich dem Wortschatz ihrer jeweiligen Epoche annähert.

Falls jemand wie ich einmal auf den Gedanken kommt, das Wort „Hindin“ zu verwenden (die poetische Bezeichnung für eine Hirschkuh): Lieber nicht. Die Leser halten es bestimmt für einen Schreibfehler. In meinem konkreten Fall sollte der Held seine Schwester mit einer Hindin vergleichen, und meint das positiv. Die Leser hätten vermutlich alle gedacht, er vergleicht sie mit einer Hündin …