Huwelreich – zwei Jahre später

Zwei Jahre nach „Der Kaiser von Huwelreich“

Vorsicht! Vorsicht! Lesen auf eigene Gefahr!
Alles verratende Riesen-Ungeheuer-Spoiler!
Wer das liest, weiß das Ende und noch viel mehr!

Ministerpräsident Hajo von Hinderlich sammelte die vorgelegten Akten wieder ein. Er hatte es eilig heute; die Frau des Finanzministers hatte alle Minister und ihn zur Mittagstafel eingeladen: Es gab die unvergleichlichen Schweinshaxen ihrer begnadeten Köchin!
Er ergriff die letzten Akten – dabei wehte er einen Brief vom Tisch.
„Allergnädigste Verzeih-“, murmelte er und hob den Brief auf. Ein guter Ministerpräsident konnte Schriftstücke mit einem Blick überfliegen, und trotzdem dabei aussehen, als schaue er treuherzig überallhin, nur nicht auf das Geschriebene.
Dieser hier war von der Kaiserin, natürlich, die Buchstaben sahen aus wie Angelhaken. Sie vermisste den Kaiser, schön, schön. Sie träfe Reisevorbereitungen; natürlich würde sie sich vor der Reise nicht noch ausruhen, für Ruhe sei im Sarg dann genügend Zeit; er solle sich nicht immer Sorgen um sie machen, und ob denn seine Schmerzen sich gebessert hätten, sie brächte Doktor Somatopatos mit, und er solle sich unbedingt schonen und nicht immer bis um Mitternacht arbeiten, er solle lernen, Arbeit an fähige Leute wie Hinderlich (ha!) abzugeben, und –
„Ich frage mich manchmal, ob meine Frau glaubt, ich hieße eigentlich Majestät“, sagte der Kaiser.
Huch! Hinderlich schaute zu den Grußzeilen. Der Brief begann mit „Meine liebste allergnädigste Majestät“ und endete mit „In Treue ersterbe ich Eurer Majestät hingebungsvolle Gattin Fernanda Imperatrix Regina“.
„Das ist selbstredend außergewöhnlich“, sagte Hinderlich. „Aber ich möchte Euer Majestät daran erinnern, dass Kaiserin Resl ihren Gatten den Kaiser immer vor allen Leuten ‚Mein Wuzzi‘ nannte. Selbst an dem Tag, an dem sie dem Volk – den Leuten – seinen Tod mitteilte. Sie sagte: ‚Unser Wuzzi ist gestorben!‘“
„Ja, vor allen Leuten!“, sagte der Kaiser. „Aber am Frühstückstisch würde mich ein ‚Wuzzi‘ oder ‚Schnuckl‘ nicht kränken. Ich will sie jedoch nicht drängen, wir sind ja nur zwei Jahre verheiratet.“
„Vielleicht wenn’s ein Butzerl gibt“, hub Hinderlich an. Die Miene des Kaisers wurde traurig. Jaja. Ein guter Ministerpräsident wusste, wann Schweigen seine vornehmste Pflicht war.

„Noch eine Sache, Majestät“, sagte Fidelius von Eisenbiss. Von draußen drang der Feuerburger Glorienmarsch herein. „Ich weiß, dass Sie gleich zum Eckfenster gehen müssen und den Touristen zuwinken, deshalb fasse ich mich kurz. – Ich als Regierungschef verfüge nicht über die Kompetenz, mich in Belange des Allerhöchsten Privatlebens Eurer Majestät einzumischen – aber ich in meiner Eigenschaft als Mann von Welt und Erfahrung erbitte mir an dieser Stelle die Freiheit, Euer Majestät zu fragen, ob Sie es nicht in Betracht ziehen wollten, auf die gegenseitige förmliche Anrede zwischen Eurer Majestät und Seiner Majestät Ihrem Gatten zu verzichten?“
„Wohlan. Vielen Dank für Ihren Rat, Durchlaucht“, sagte Fernanda.
„Seine Majestät wäre ‚Wuzzi‘ oder ‚Schnuckl‘ nicht abgeneigt“, sagte Eisenbiss höflich.
„Wuzzi oder Schnuckl? Sind das Pferde?“
„Äh, nein, Majestät. Es sind huwelreichische Kosenamen.“
„Ach so. – Wohlan. Ich werde es erwägen.“

Der Hofzug war inzwischen ihr drittes Zuhause, und der Schreibtisch des Arbeitswagons war ihr genauso vertraut wie die Schreibtische in Donnerhall und Gutensaat.
Sie waren beide zu Reisekaisern geworden, und ihre Regierungen reisten mit. Einen Monat verbrachte Guntram bei ihr in Donnerhall, einen Monat verweilten sie jeweils getrennt in ihren Hauptstädten, und einen Monat verbrachte sie bei ihm in Gutensaat.
Die Segnungen des Fortschritts trösteten sie über den Monat der Trennung hinweg: Guntram schickte ihr jeden Morgen ein privates Grußtelegramm, und abends sprach Fernanda mit ihm durchs Telefon. In ihrer offiziellen Korrespondenz verzichteten sie auf jedwede Liebesbekundung – wobei so mancher wichtigen Akte, wenn sie aus Huwelreich kam, ein privates Handschreiben von Guntram beilag, in dem er sie seiner größten Zuneigung versicherte. Für gewöhnlich gelangten die Akten zuerst zu Eisenbiss, der ihr die kaiserlichen Handschreiben kommentarlos beim nächsten Vortrag überreichte – doch als er einmal in Kur gefahren war, ohne seinen Vertreter von den mysteriösen Billetts zu unterrichten, geriet das ganze Auswärtige Amt in Aufregung ob eines absenderlosen Zettels, auf dem lediglich stand: „Busserl, liebe Majestät!“
Man befürchtete schon, es handle sich dabei um eine verschlüsselte Drohung, und erst Fernandas Versicherung, ihr Gatte sei der Urheber dieses absenderlosen Schreibens, bewog die Garde du Corps, die verdoppelten Wachen von allen Fenstern und Türen der kaiserlichen Räume abzuziehen.
Der Zug tutete. Sie schlug die Aktenmappe zu und trat ans Fenster, um den versammelten Gutensaatern zu winken. Obwohl die Ankunft der aarenländischen Kaiserin inzwischen keine Besonderheit mehr war, fanden sich stets tausende Leute am Bahnhof ein zu ihrer Begrüßung.
Der Zug hielt an. Die Hymnen wurden gespielt, erst die von Aarenland, dann die von Huwelreich. Flügeladjutant Paffke stieg aus. Als Fernanda in der Tür erschien, übertönte der Jubel die Musik.
Da stand ihr Kaiser, mit demselben zärtlichen Lächeln wie bei ihrer Ankunft damals vor drei Jahren, als sie noch Prinzessin war und er schon lang in sie verliebt.
Er fasste ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Eine deutlichere Demonstration ihrer Liebe hatte sie sich verbeten; sie waren schließlich kein liebestoller Winfried und seine Alexia. Aber bei der Kutschfahrt zum Palast durfte er ihre Hand halten.
Im Palast angekommen, gingen sie ohne Umschweife ins kaiserliche Arbeitszimmer. Flügeladjutant Paffke hatte bereits Fernandas Akten hierhergebracht.
„Aber jetzt“, sagte sie.
Guntram schloss sie in die Arme. Sie küssten sich eine Weile lang – bis die Uhr schlug und sie an ihre Pflichten erinnerte. Zögerlich ließ er sie los. Sie setzten sich an die Schreibtische einander gegenüber.
Sie erwog, ob sie es ihm jetzt schon sagen sollte, aber der Stapel Akten verbot es ihr.

Nach dem Diner hatten sie noch eine Stunde lang Akten bearbeitet, eine halbe Stunde bei Helene und Wilhelm Tee getrunken und schließlich Franz von Franzenau empfangen und ihn über seine Ernennung zum Außenminister unterrichtet.
Es war elf Uhr, als sie sich zurückzogen. Blandine half ihr aus dem Kleid und eilte dann zu ihrem Gatten, Gardist Feschky.
Fernanda setzte sich vor den Spiegel. Guntram hatte darum gebeten, dass immer er ihre Haare lösen dürfe. Er brauchte doppelt so lang wie Blandine, aber sie ließ ihm die Freude. Sie nahm die Nadeln und legte sie vor sich auf den Spiegeltisch in fünf Reihen zu je zwei Fünfer-Grüppchen, und noch einmal fünf und zwei. Es waren schließlich siebenundfünfzig, die wollten alle gezählt sein.
Er war so behutsam, als wäre sie ein Schmetterling.
„Ihre Schmerzen haben sich verschlimmert, Majestät“, sagte sie. Früher hätte sie das nicht bemerkt, doch mittlerweile erkannte sie schon nach zwei Schritten, ob ihm das Knie Kummer bereitete oder der Rücken oder die Hüfte. Selbst jetzt belastete er nur das gesunde Bein.
„Ach, das kommt vom Wetter.“ Er reichte ihr wieder eine Nadel.
„Sie sind bei der Eröffnung des neuen Museums letzte Woche zu viel umhergegangen.“
„Ich wollte all die Künstler, für deren Gemälde ich gemäß Plan keine Zeit gehabt hätte, nicht enttäuschen.“ Er gab ihr die letzte Nadel und nahm die Bürste. Sanft strich er über ihr Haar, beinahe ehrfürchtig.
Sie blickte auf ihre Hände, damit er nicht ihr Lächeln sah. „Wir sind ja nun zwei Jahre verheiratet“, sagte sie.
Er schwieg.
„Darum wollte ich Sie fragen, ob wir der Schicklichkeit nun Genüge getan haben und uns eine vertrautere Anrede erlauben dürften –“
Er warf die Arme um ihren Hals. „Endlich! Endlich! Ich habe so lange darauf gewartet!“
„Wollen wir es tun? Erlauben wir uns das Du?“
Er fasste nach ihrer Hand. „Unbedingt. Ich heiße Guntram.“
Seine Augen sprühten beinahe Funken. Sie legte die Stirn in Falten, und das Leuchten in seinen Augen erlosch. Sie sagte: „Und was ist mit Wuzzi oder Schnuckl?“
„Was du willst, mein Spatzerl. Ich dachte schon, ich müsste auf unsere Silberhochzeit warten!“ Er bürstete wieder weiter und strahlte.
Sie zwang sich zu einer neutralen Miene. „Und unser Kind? Soll es uns siezen? Wir müssten es dann aber mit ‚Hoheit‘ ansprechen, damit es gerecht wäre.“
All seine Freude zerstob. Er wünschte sich von Herzen ein Kind. Sie wusste, dass er sogar schon heimlich die Verlautbarung zur Geburt eines Thronerben oder einer Thronerbin aufgesetzt hatte, wohl in der Hoffnung, mit reiner Willenskraft zu erringen, dass seine Frau in gute Hoffnung geriete. Kinderlosigkeit war im Hause Friedenfels nie vorgekommen. Seine Bürstenstriche wurden kraftlos.
„Aber es will ja keines kommen“, sagte er leise. „Die Kurstadt Bad Schaud hat mir geschrieben, sie lade dich ein, sie zu besuchen. Unsere Länder warten auch alle! Du solltest hingehen nach Bad Schaud, die heißen Bäder haben schon vielen Frauen geholfen. Und es gibt einen Berg in Schwalben, einen wunderwirkenden Berg, nach dessen Besuch bekamen schon viele Frauen noch ein Kind, selbst wenn es vorher immer aussichtslos schien. Das hat mir der ‚Verein frommer Bauersfrauen‘ geschrieben. Und der Botschafter von Dakadien hat mir einen Edelstein geschenkt, den sollst du über Nacht in einem Glas Wasser stehen lassen, und dann das Wasser trinken, dann gelingt es. Siehst du? Es gibt noch Hoffnung, wir haben noch nicht alles versucht, und vielleicht hilft eines davon!“
„Oh, Schnuckl“, sagte sie, „sei nicht mehr –“
„Es gibt da einen Brauch aus Etuzzien, man hängt einen Nistkasten für die Vögel vor den Fenstern der künftigen Kinderstube auf, und –“
Sie griff nach seinem Arm. „Wir sagen, wir hätten alle Ratschläge befolgt, dann meinen alle Leute, wir hätten nur dank ihnen ein Kind bekommen.“
Sie konnte das Lächeln nicht mehr zurückhalten. Es kamen sogar ein paar Tränen dazu.
Er starrte ihr Spiegelbild an. „Ein Butzerl?“, sagte er tonlos. „Wir bekommen eines? Ganz sicher?“
Sie nickte nur. Er riss sie aus dem Stuhl und drückte sie in seine Arme. „Endlich! Mein Spatzerl! Ein Butzerl!“, rief er und wiegte sie hin und her. „Wann – wann verkünden wir es unseren Leuten und der ganzen Welt?“
„Wir warten noch ein wenig –“
Geschrei auf den Gängen und im Vorzimmer. „Die Kaiser bekommen ein Butzerl!“, schrie ein Gardist. Gejubel antwortete ihm.
Diese hellhörigen Wände. In Gutensaat blieb nichts geheim.

Friedrich Joseph von Friedenfels-Hohenmeiningen war der einzige Prinz, der zu seiner Geburt 1001 Salutschüsse erhielt. Für gewöhnlich feuerte man für einen Prinzen 101 Schüsse ab, aber bei der Anordnung der Salutschüsse für Friedrich Joseph hatte sich der befehlshabende General des I. Garderegiments angeblich verschrieben und eine Null zu viel gesetzt.
Niemand glaubte General von Hellemann.

Gewidmet meiner Mama als Weihnachtsgeschenk

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